■ Aus Anlaß des Streiks der algerischen Presse - welche Folgen haben die Morde der Fundamentalisten an Journalisten auf die Berichterstattung in und aus Algerien?: Mord als Pressepolitik
Aus Anlaß des Streiks der algerischen Presse – welche Folgen haben die Morde der Fundamentalisten an Journalisten auf die Berichterstattung in und aus Algerien?
Mord als Pressepolitik
Ich könnte das nächste Opfer sein“ – diese Gewißheit teilen die JournalistInnen in Algerien. Gestern kam die Meldung von der Ermordung des Chefredakteurs der Wochenzeitung Révolution africaine. Farrah Ziane wurde vor seiner Wohnung bei Algier erschossen. Mit seinem Tod stieg die Zahl der seit Mai 1993 in Algerien ermordeten Journalisten auf 20, nach anderen Quellen sogar auf 23.
Die Ermordeten haben nichts weiter gemein als ihren Beruf. Sie arbeiten für den Rundfunk, das Fernsehen oder Zeitungen, sie berichten auf französisch oder auf arabisch, und sie tun es im Dienste staatlicher Medien oder neuer, unabhängiger Organe. Dutzende von JournalistInnen aller Sparten und politischen Richtungen führen ein Leben im Untergrund. Sie schlafen nie am selben Ort, meiden ihre Wohnung, trennen sich von ihren Familien und suchen Schleichwege zur Arbeit.
An die 200 sind ins Exil gegangen. Seit sich auch die Morddrohungen gegen die Angehörigen von JournalistInnen mehren, arbeiten immer mehr Daheimgebliebene unter Pseudonymen und Namenskürzeln oder unterzeichnen ihre Artikel gar nicht mehr. Den Beruf aufgegeben haben jedoch nur wenige. „Das wäre widersinnig“, erklärt ein algerischer Korrespondent in Paris, „die jetzige Situation bestätigt uns Demokraten doch in unseren Überzeugungen.“
Seit vorgestern sind die sechs größten Zeitungen des Landes – allesamt unabhängige Blätter – im Streik gegen die Welle der Gewalt. In ihrer gemeinsamen Erklärung machen sie fanatische Islamisten für die Attentate verantwortlich, aber sie wenden sich auch gegen die Staatsmacht, die die Verbrechen „verharmlost“.
„Es grenzt an ein Wunder, daß die algerischen Medien überhaupt noch arbeiten“, sagt ein Journalist im französischen Exil, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. Ein Mitarbeiter der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) hat eine „unglaublich dynamische Atmosphäre“ in den Redaktionen von Algier erlebt. Da vor allem die Stars des Journalismus geflohen sind – Unbekannten fällt es schwer, Visa zu bekommen –, sind junge Leute nachgerückt. Was ihnen an Berufserfahrung fehlt, machen sie durch Mut wett.
Der RSF-Mitarbeiter beschreibt einen jungen Reporter von El Watan, der sich am Tag des Schulbeginns unter falschem Namen in einen jener „heißen Vororte“ von Algier begeben hat, aus denen sich die staatlichen Sicherheitskräfte längst zurückgezogen haben. Die Islamische Heilsfront (FIS) hatte die Wiedereröffnung der Schule „verboten“. Kaum hatte der Reporter seine Recherche begonnen, erhielt seine Redaktion bereits telefonische Morddrohungen gegen ihn. Sein Artikel erschien trotzdem.
Die Recherche vor Ort ist freilich zur Ausnahme geworden. Immer mehr Artikel entstehen am Telefon – die meisten davon in der Hauptstadt Algier. „Aus der Provinz, aus der Widerstandsbewegung, aus dem Inneren der FIS dringt kaum noch etwas an die Öffentlichkeit“, beklagt eine algerische Journalistin in Paris.
Erst vier Jahre ist es her, daß sich die staatliche Kontrolle der Medien lockerte. Nach dreißigjähriger Gängelung entstanden unabhängige Zeitungen und solche, die anderen Organisationen als der regierenden FNL nahestehen. Die heute auflagenstärksten Blätter Liberté, Le Soir d'Algérie, El Watan, Le Matin, die jetzt alle streiken, wurden damals gegründet.
Ihre neue Freiheit war von vornherein begrenzt. Die Armee, die Sicherheitskräfte und weite Teile der Justiz unterlagen immer der Zensur. Über das zentrale politische Thema des „Dialogs“ zwischen Staatsmacht und FIS erfahren die Medien nur aus offiziellen Bulletins. Mit der Zuspitzung der algerischen Krise mehrten sich die staatlich definierten Tabuthemen. Die weitestgehende Einschränkung der Pressefreiheit datiert vom August dieses Jahres.
Ein Rundschreiben der Regierung verbietet seither alle Veröffentlichungen über Attentate auf die Sicherheitskräfte und über den staatlichen Kampf gegen den Terror – und die algerische Polizei verfährt ebenfalls brutal. Das Rundschreiben selbst unterliegt ebenfalls der Geheimhaltung.
Zu Verurteilungen von JournalistInnen, die sich gegen die staatliche Kontrolle auflehnen, kommt es nur selten. Viel häufiger ist die systematische Schikane: monatelange Verfahren gegen leitende RedakteurInnen und die Drohung mit dem Entzug von Papier und Druckmöglichkeiten – beides staatliche Monopole.
Der ausländische Blick auf Algerien ist den Islamisten längst zum Opfer gefallen. Als letzte französische Zeitung zog vor sechs Monaten Le Monde ihre Korrespondentin ab. Sie pendelt heute zwischen Paris und Algier. Auslandschef Daniel Vernet beschreibt das Dilemma: sich „nicht einschüchtern zu lassen und nicht den Terroristen Recht zu geben“ und andererseits nicht „Menschenleben aufs Spiel zu setzen“.
Aus der Sicht vieler algerischer Journalisten hat der Abzug der AusländerInnen den Tenor der internationalen Algerien-Berichterstattung nicht verändert. „Seit Jahren ist in den ausländischen Medien von einem Bürgerkrieg die Rede. Die Lage ist schwierig, das stimmt, aber ein Bürgerkrieg ist das nicht“, sagt ein algerischer Journalist, der in Paris arbeitet. Eine Kollegin von ihm macht die „Verteufelung der Islamisten“ dafür verantwortlich, daß es keinen tieferen ausländischen Einblick in ihr Land gibt. „Aus dem Hinterland“, sagt sie, „kam auch vor den Morden nichts herüber.“ Dorothea Hahn/Paris
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