Montagsinterview: "Es geht um die Frage, wer dazugehören darf"
Als er in den 60ern in Neukölln zur Schule ging, war er der einzige Türke in der Klasse und wurde behandelt wie alle anderen. Heute ist Semih Kneip Sozialarbeiter und kämpft gegen die Stigmatisierung von MigrantInnen.
taz: Herr Kneip, sind Sie religiös?
Semih Kneip: Nee, eigentlich nicht. Warum?
Der 47-Jährige ist zuständig für Projektentwicklung und Coaching bei Gangway e. V., einem 1990 gegründeten Trägerverein, der Straßensozialarbeit und andere Projekte in ganz Berlin durchführt.
1967 kam der damals Fünfjährige aus der Türkei nach Deutschland, wo seine Mutter bei Siemens arbeitete. Sein Vater war zwei Jahre zuvor verstorben. Der Junge wuchs "allein unter Frauen" auf, bis seine Mutter Anfang der 70er-Jahre wieder heiratete. Sein Stiefvater adoptierte Semih - daher der deutsche Nachname.
Kneip hat nach einer Erzieherausbildung an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik studiert: bei Professor Reinhart Wolff, was ihm wichtig ist zu erwähnen, "da er mich sehr in meiner Haltung geprägt hat".
Kneip ist seit 1988 verheiratet und Vater von zwei Söhnen (13 und 19 Jahre).
Gangway präsentiert derzeit die Ausstellung "Grauzone Leben" über das Leben nach dem Knast im Archiv der Jugendkulturen.
Sie wohnen in Kreuzberg in einer Kirche.
Dafür muss man ja nicht religiös sein. Ich habe in dieser Kirche 1981 als 19-Jähriger in der Kinderarbeit ein Praktikum gemacht, daraus ergab sich später eine Honorarstelle, berufsbegleitend habe ich dann dort eine Erzieherausbildung gemacht. Über die langjährige Arbeitsbeziehung ist eine Freundschaft zu dem damaligen Pfarrer entstanden. Als er vor 12 Jahren in Rente ging, stand die Wohnung zur Vermietung. Seitdem wohnen meine Familie und ich unterm Glockenturm.
Warum haben Sie sich für den Pädagogenberuf entschieden?
Bewusst die Entscheidung getroffen, dass ich Sozialarbeiter werden will, habe ich nie. Ich bin da so reingerutscht, ich war mit 19 nicht anders als die Jugendlichen heute auf der Suche. Ich hatte das Gymnasium kurz vor dem Abitur abgebrochen, hatte auf Kreta eine Frau kennengelernt, mit der ich nach Indien wollte. Was ich da ganz genau wollte, wusste ich eigentlich auch nicht, was ich aber nicht wollte, wusste ich: Schule. Dass ich in den pädagogischen Bereich, in den Helferbereich sozusagen, reingerutscht bin, hat vielleicht etwas mit meiner Mutter zu tun: Sie war alleinerziehend, sie war oft krank, als ich noch ein Kind war, und ich musste mich um sie kümmern, sie pflegen. So habe ich schon früh gelernt zu helfen. Man könnte auch sagen, Sozialarbeiter sind Konfliktmanager, und ich habe früh gelernt, Konflikte, auch eigene, zu managen.
Ihre Mutter war als Alleinerziehende aus der Türkei nach Deutschland gekommen?
Sie war 1959 in Ankara durch ihre Eltern zwangsverheiratet worden. Nach vier Tagen Ehe hat sie sich aber von ihrem Mann getrennt, weil sie eigentlich meinen Vater liebte. Den hat sie später geheiratet, und 1961 kam ich zur Welt. Als ich 3 war, starb mein Vater. Meine Mutter ist 1966 nach Deutschland gegangen, hat bei Siemens in Berlin gearbeitet, obwohl sie ausgebildete Lehrerin war. Zehn Monate später hat sie mich hergeholt. Da war ich 5.
Wie haben Sie das erlebt?
Ich glaube, als Abenteuer. Ich erinnere mich vor allem an viele U-Bahn-Fahrten.
U-Bahn-Fahrten? Warum das?
Meine Mutter lebte in einem Wohnheim für türkische Arbeiterinnen. Als der Hausmeister mitkriegte, dass dort ein Kind lebt, hat er uns vor die Tür gesetzt. Wir sind dann eine Zeit lang immer bis 22 Uhr U-Bahn gefahren, manchmal haben wir uns auch in Telefonzellen gestellt und so getan, als ob wir telefonieren, damit uns keiner da rausschmeißt. Nachts hat meine Mutter mich dann ins Heim geschmuggelt. Irgendwann ist die Fürsorge auf uns aufmerksam geworden und hat uns in einem Heim in Schöneberg untergebracht, wo türkische Paare lebten, die Kinder erwarteten.
Das war ja kein schöner Empfang. Hatten Sie kein Heimweh?
Nein. Ich war hier ja umgeben von lauter Frauen, die teils selber Kinder in der Türkei zurückgelassen hatten. Sie haben ihre ganze Sehnsucht an mir gestillt. Ich war immer wertvoll, überall, wo ich hinkam.
Dann wurden Sie mit sechs Jahren ganz ohne Deutschkenntnisse eingeschult?
Ich bin im August 1967 hergekommen und ein Jahr später eingeschult worden. Deutsch hatte ich da schon ein bisschen gelernt. Ich war damals der einzige Schüler türkischer Herkunft in meiner Klasse auf der Neuköllner Karl-Weise-Grundschule.
Wo heute etwa 70 Prozent der Kinder aus Einwandererfamilien stammen.
In der fünften Klasse kam dann noch ein türkischstämmiger Junge, er hieß Aydin, dazu. Wir wurden nicht anders behandelt als die deutschen Kinder und haben uns auch nicht anders gefühlt. Migration, Integration waren damals ja noch keine Wörter. Allen war irgendwie klar: Wir waren die Kinder der Gastarbeiter, die ein paar Jahre mit unterrichtet werden. Und dann gehen alle wieder in ihre Heimat zurück.
War das auch die Haltung Ihrer Mutter?
Also, was das Lernen betraf, da war sie immer ziemlich hinterher. Und in Bezug auf die Rückkehr: Offiziell hat sie auch so geredet, ja, aber insgeheim, glaube ich, hat sie nicht wirklich ernsthaft daran gedacht zurückzukehren. Sie konnte hier als Alleinerziehende viel selbstständiger leben, als das in der Türkei zum damaligen Zeitpunkt möglich gewesen wäre. Und später hat sie ja auch wieder geheiratet, einen lieben deutschen Mann.
Dem Sie Ihren deutschen Nachnamen verdanken.
Ja, er hat mich adoptiert, weil ich so leichter deutscher Staatsbürger werden konnte. Das war damals sehr schwierig. Man musste viele Papiere ausfüllen, unter anderem Fragen beantworten wie die, wo man zwischen 1933 und 1945 gewesen war.
Nun haben Sie einen türkischen Vor- und einen deutschen Nachnamen und fast Ihr ganzes Leben hier verbracht: Wie würden Sie sich nennen? Deutschtürke? Turkodeutscher?
So können mich ja andere nennen. Ich bin Berliner.
Vor 40 Jahren waren Sie der einzige türkschstämmige Schüler Ihrer Klasse. Heute gelten Schüler nichtdeutscher Herkunft, insbesondere arabisch- und türkischstämmige, als die große Problemgruppe an Berliner Schulen. Was ist passiert?
Zu meiner Schulzeit glaubten alle, Einwanderer wie Eingesessene, dass wir eine Zeit lang hier bleiben und dann wieder gehen würden. Diese Idee, dass wir Gäste sind, die man anständig behandelt, denen man was mitzugeben versucht, das hat funktioniert. Es gab Berührung, es gab Ansprache. Das ist heute anders. Es ist klar, dass die Einwanderer bleiben. In Folge dessen hat sich auch verändert, wie sie wahrgenommen werden. Es werden sehr schnell irgendwelche Gruppen zu Problemträgern erklärt, ob das nun SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft sind, deren Eltern also über Migrationserfahrung verfügen, oder ob das die Eltern selbst sind, die mit Begriffen wie bildungsfern als Problemgruppe beschrieben werden. Man muss aber differenzierter hingucken, vorher mal tief durchatmen und sich Zeit lassen, wenn man über diese Themen spricht. Das vermisse ich.
Dann gucken Sie doch jetzt mal differenzierter hin.
Wenn man das tut, erkennt man, dass Probleme immer in einer Interaktion entstehen. Etwa wenn Lehrer auf Schüler oder Eltern und die umgekehrt auf Lehrer mit wenig Verständnis füreinander zugehen. Ich bin nicht der Meinung, dass man ganze Gruppen aufgrund ihrer kulturellen oder religiösen Hintergründe zu Problemträgern erklären kann. Die Probleme entstehen in der Schule selbst, in der Interaktion aller Beteiligten.
Bitte Beispiele.
Als Sozialarbeiter habe ich an Schulen, wo Lehrkräfte über Probleme wie Gewalt unter den Schülern oder Desinteresse der Eltern klagten, Coachings durchgeführt, an denen alle erwachsenen Beteiligten, also Lehrer- und ErzieherInnen und Eltern, teilnehmen konnten. An einer Grundschule, wo zu jedem dieser Treffen immer etwa sieben, acht ErzieherInnen, vier bis fünf Lehrkräfte und fünf bis zehn Eltern kamen, kam bei jeder Sitzung von den LehrerInnen die Klage, es seien zu wenig Eltern da. Dabei waren es immer weniger Lehrkräfte als Eltern. Doch die Haltung der LehrerInnen dazu änderte sich nicht. An anderen Schulen hieß es gleich: Wir dachten, Sie kommen her und sagen uns, welche Schüler verhaltensgestört sind, und nehmen die dann aus dem Unterricht raus, damit wir mit den anderen in Ruhe lernen können. Das ist natürlich nicht die ausschließliche Haltung von Lehrern, aber schon eine verbreitete. Da wird eine große Anpassung an die eigenen Erwartungen vorausgesetzt.
Nach dem Motto: Wenn ihr schon hier bleibt, dann werdet wie wir?
Schule und Mehrheitsgesellschaft leben ja nicht in einem luftleeren Raum. Es gibt unterschiedliche gesellschaftspolitische Einflüsse, die die Migranten mal so und mal so darstellen. Es gibt Gesetzestexte und Erlasse, die das Leben der Gesellschaft beeinflussen. Wenn beispielsweise der Innensenator von Berlin verfügt, dass nichtdeutschen Jugendlichen, die ab dem Alter von 16 Jahren einen eigenen Aufenthaltstitel erwerben müssen, dieser verweigert werden kann, wenn sie 40 unentschuldigte Fehltage oder mehr als zwei Fünfen auf dem Zeugnis haben, dann hat das einen Einfluss darauf, wie sehr diese Kinder als gleichwertiger Teil dieser Gesellschaft wahrgenommen werden, wie sehr sie sich auch selbst als solchen sehen. Auch die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle. Als ich eingestiegen bin in die soziale Arbeit, benutzte man Begriffe wie Ausländer. Es hieß schon nicht mehr Gastarbeiter, weil man begriffen hatte: Die kehren so bald nicht zurück. Heute reden wir von Migranten, von Einwanderung, von Integration. Das sind politische Vorgaben, die umreißen, was möglich ist an Verständnis, an Kommunikation. Sie beeinflussen die Menschen in der Gesellschaft, ihre Art, die Dinge zu sehen und daraus Handlungen erwachsen zu lassen.
Wie verläuft die Einflussnahme solcher Vorgaben, wie entstehen daraus Handlungen?
Wenn Politik beispielsweise sagt, diese Leute sind integrationsunwillig, dann kommen die Medien, greifen das auf und recherchieren so lange, bis sie Beispiele dafür finden. Auch das Schulsystem reagiert, es melden sich Lehrer und sagen: Genau, auch bei uns an der Schule beobachten wir das. So werden ganze Kieze zu Problemkiezen voller Integrationsunwilliger. Dann kommt die Profession der Sozialarbeiter und macht Projekte dazu: etwa Programme für orientierungslos gewordene türkischstämmige Eltern. Davon hängen dann wieder Stellen ab, was dazu führt, die Lage immer wieder als problematisch beschreiben zu müssen, damit die Projekte weitergehen können. Ich will das nicht pauschalisieren, es gibt durchaus Lehrer und Sozialarbeiter, die eine andere Haltung dazu haben. Zu beobachten ist aber, dass in dem ganzen Wirrwarr sich zunehmend alle gegenüberstehen. Oftmals stehen auch Sozialarbeiter und Lehrer den Objekten ihrer Arbeit gegenüber, statt sich mit ihnen auf eine Seite zu stellen und in Partnerschaft zu überlegen, wie wir gemeinsam etwas ändern, wie wir uns gemeinsam über die Bildung und Erziehung unserer Kinder Gedanken machen können.
Von Schulen wird doch heute zunehmend gefordert, dass Eltern, gerade Migranteneltern, sich mehr beteiligen sollen.
Sie werden dabei aber meist nicht als gleichberechtigte Partner, sondern als bildungsfern, als defizitär angesehen. Dabei würde ich auch hinter diesen Begriff der Bildungsferne ein Fragezeichen setzen. Im Grunde orientiert der sich an Maßstäben süddeutscher Privatinternate und deren Bildungsideal - an einer gesellschaftlichen Elite, die selbst eine Art Parallelgesellschaft ist. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass Eltern, die die deutsche Sprache nicht können, deshalb ja nicht komplett ungebildet sind. Sie haben Kompetenzen, sprachliche, vielleicht auch handwerkliche oder solche des Umgehens miteinander. Ich bestreite ja nicht, dass viele Eltern heute orientierungslos sind. Viele sind heute - ganz unabhängig von ihrer Herkunft - ratlos, was die Erziehung und Bildung ihrer Kinder betrifft. Das hat mit dem rasanten Wandel unserer Gesellschaft zu tun. Was diese Eltern aber nicht brauchen, sind LehrerInnen und andere, die ihnen Bildungsferne bescheinigen. Sie brauchen Fachleute, die ihnen bei Bedarf zur Seite stehen und sie unterstützen, statt ihnen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Wie kommt es zu diesen Ab- und Ausgrenzungen?
Unsere Gesellschaft ist derzeit einem enormen Wandel unterworfen. Arbeit wird weniger, gleichzeitig wird den Menschen vorgeworfen, sie wären Faulpelze, wenn sie nicht arbeiten. Dabei findet ein Um- und Abbau des Sozialstaates statt, der sich zwangsläufig auf die Institutionen im Kontext - wie beispielsweise Bildungseinrichtungen - auswirkt. In Zeiten solchen Wandels tauchen zudem automatisch Fragen danach auf, wie die nachfolgende Generation zu erziehen ist, was sie lernen, was sie können muss. Gleichzeitig kann man Veränderungen, Abbau am Sozialstaat am besten vornehmen, wenn man den davon Betroffenen Probleme und damit Schuld zuschreibt. So kann bei der Mehrheit Verständnis dafür erzeugt werden, dass das, was man jetzt unternimmt, richtig und gut ist.
Und das betrifft die Migranten?
Genau, das betrifft die Situation im Themenfeld Migration. Es geht um die Frage, wer wir sind, wer wir sein wollen und wer künftig legal dazugehören wird. Deshalb wird uns allen die Forderung nach einem Ministerium für Integration, wie sie von verschiedenen Seiten immer wieder ins Gespräch gebracht wird, auch nichts bringen. Jedenfalls nichts Gutes. Denn die Gesellschaft befindet sich in einer Krise, deren Auslöser aber nicht die Migranten sind, sondern es ist der enorme und rasante Wandel, dem sie ausgesetzt ist.
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