Montagsinterview mit Chefkoch Hans-Jürgen Leucht: "Die besten Ostschweine gingen in den Westen"
Hans-Jürgen Leucht, früher Sous-Chef in der "Domklause" des Palasthotels, ist Chefkoch des neu eröffneten DDR-Restaurants "Domklause". Dort gibt es wieder Ostklassiker wie "Steak au four" - aber das Arbeiten ist nicht dasselbe wie im sozialistischen Kollektiv.
taz: Herr Leucht, Sie sind Chefkoch des vor drei Monaten eröffneten DDR-Restaurants "Domklause". Auch vor 1989 haben Sie, als Sous-Chef, in der "Domklause" im exklusiven Palasthotel gearbeitet. Die DDR ist Vergangenheit, aber Sie kochen nun Ostklassiker wie Jägerschnitzel auf Spirelli, Schweinesteak au four und Falscher Hase, Hackbraten gefüllt mit Spreewaldgurken. Empfinden Sie das als Ironie der Geschichte oder persönliche Genugtuung?
Hans-Jürgen Leucht: Das hat nichts mit Genugtuung zu tun. Man soll einfach daran denken, dass es die DDR gab, und deshalb lassen wir viele Sachen wiederaufleben, die in Vergessenheit geraten sind. Die, die keine Ahnung haben, wundern sich ja, dass es in der DDR überhaupt was zu essen gab. Es ging nur um ein paar Produkte, die man so nicht zur Verfügung hatte. Wenn kein Kalbfleisch da war, weil es für den Export bestimmt war und es Westgeld dafür gab, haben wir eben mageres Schweinefleisch genommen. Der Gast hat das nicht gemerkt. Aber wir hatten eigentlich alle Produkte.
Mit "wir" meinen Sie sogenannte Valuta-Hotels wie das Palasthotel, die im Vergleich zu Gaststätten der staatlichen Handelsorganisation HO privilegiert waren.
Der DDR-Koch: Hans-Jürgen Leucht wurde 1951 in Gera geboren. Kochen lernte er im dortigen Interhotel, 1979 wurde er Koch im Berliner Palasthotel. Das exklusive Haus, dem Dom gegenüber an der Spree gelegen, war Westlern vorbehalten. Für Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski und die Stasi war es ein Kontaktort. Nach zwei Jahren im China-Restaurant "Jade" wechselte Leucht in die "Domklause", wo er bis zur Wende arbeitete. Das Palasthotel wurde im Jahr 2000 abgerissen.
Der Nachwende-Koch: Nach dem Mauerfall war Leucht ein halbes Jahr arbeitslos. Es folgten Anstellungen bei Caterern und Kantinen. Vergangenes Jahr bewarb er sich für die Küche der neuen "Domklause" - seine Probezeit endet im Mai 2011. Leucht hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau, einer Köchin, in Marzahn.
Der neue Arbeitsplatz: Ende 2010 wurde neben dem DDR-Museum wieder eine "Domklause" eröffnet - fast an derselben Stelle wie ihr Vorgänger im Palasthotel. Hier kredenzt Chefkoch Leucht Gerichte wie "Broiler mit Sättigungsbeilage" oder "Steak au four", die die Gäste zwischen sozialistischen Parolen wie "Fischstäbchen und Konserven - abwechslungsreich und tischfertig" verspeisen. "Natürlich nach DDR-Rezept!", verspricht das DDR-Museum, zu dem das Restaurant gehört.
Ja, wir hatten Produkte, die die HO nicht kriegte - Rumpsteak oder Filetsteak. Da gab es auch schon mal Tomaten aus Holland von Januar bis Dezember. Und während es in den HO-Gaststätten Rotkraut-, Weißkraut- oder Möhrensalat als Beilage gab, gab es in den Interhotels als Garnitur guten Blattsalat mit einer Scheibe Tomate oder Gurke.
Hat sich bei den Zutaten der DDR-Klassiker, die Sie jetzt kochen, etwas verändert?
Nein, wir nehmen Ostprodukte. Senf zum Beispiel. Mir schmeckt der Bautzner Senf am besten, aber ich bin Thüringer, also nehme ich Altenburger oder Born-Senf aus Erfurt. Und wir verwenden Spreewaldgurken oder Dresdner Worcestersoße. Ins Würzfleisch kommt keine Worcestersoße von Heinz!
Sind die Betreiber des DDR-Restaurants auf Sie zugekommen oder haben Sie sich als Chefkoch beworben?
Bei einer Maßnahme vom Arbeitsamt haben wir ein Bewerbungstraining absolviert, und da fand ich im Internet das Stellenangebot für Küchenpersonal im Restaurant "Domklause". Ich dachte, ich könnte mal hingehen und gucken. Mit meinen damals 58 Jahren habe ich mir jedoch nicht viele Hoffnungen gemacht.
Wie war es dann, als Sie die Stelle bekommen haben?
Na ja, aus dem Häuschen war ich auch nicht, weil man ja weiß, wie schwierig es ist, sich auf dem Arbeitsmarkt zu halten.
Die Macher des DDR-Museums werben für das Restaurant mit Ihnen: "Chefkoch Hans-Jürgen Leucht, schon in der alten Domklause Sous-Chef, serviert Broiler mit Sättigungsbeilage, Jägerschnitzel auf pikanter Tomatensoße oder Steak au four - natürlich nach DDR-Rezept!" Macht Sie das stolz?
Ach, stolz macht mich das nicht. Dass es mich getroffen hat, ist eben so. Aber natürlich hat meine Zeit in der alten "Domklause" schon eine Rolle bei meiner Einstellung gespielt. Schließlich war ich zehn Jahre dabei, fast bis zum bitteren Ende.
Wie haben Sie das Ende empfunden?
Traurig, traurig, traurig. Es war ein gutes Restaurant, gute Arbeit, guter Umgang unter den Kollegen. Das war ein ganz anderes Arbeiten als heute.
Inwiefern?
Früher hat man miteinander gearbeitet, der eine war für den anderen da. Heute ist es schwieriger, ein Team auf eine Linie zu bringen.
Aber Sie sind doch der Chef in der Küche!
Die Mentalität der Menschen ist ganz anders. Nicht alle wollen sich einfügen, da kann man machen, was man will. Solange man da ist, läuft es. Aber sobald man den Rücken kehrt, kann es schon ganz anders aussehen.
Wie erging es Ihnen nach dem Ende der alten "Domklause"?
Als ich das erste Mal arbeitslos war, war das ganz, ganz böse, weil man Arbeitslosigkeit ja überhaupt nicht kannte. Ich hätte als Koch anfangen und mich zum Küchenmeister hocharbeiten können. Das ist oft passiert. Aber das habe ich nicht gemacht.
Warum nicht?
Wenn man schon etwas geleistet hat, auch wenn es zu DDR-Zeiten war, warum sollte ich mich dann unterordnen? Zum Glück habe ich immer wieder Arbeit gefunden, bei Catering-Firmen, als Kantinenleiter beim Landgericht oder beim Bezirksamt Marzahn. Bevor ich hier im DDR-Restaurant angefangen habe, war ich ein halbes Jahr arbeitslos.
Wie ist es für Sie, Gerichte eines nicht mehr existierenden Landes zu kochen?
Wie soll das sein? Ich weiß es nach so wenigen Monaten auch noch nicht genau. Das Land gibt es nicht mehr, aber Gerichte wie Ragout fin, Jägerschnitzel und Steak au four werden in den neuen Bundesländern bis heute in den Gaststätten gehalten. So was wird angenommen.
Gibt es den DDR-Geschmack?
Den gibts nicht. Das ist Quatsch. Der Geschmack, beispielsweise bei Schweinesteak mit Pilzen, war nicht anders als im Westen. Wie viele Viehtransporter sind damals täglich in den Westen gefahren gegen Valuta! Die besten Ostschweine gingen in den Westen. Also hat drüben das Schweinefleisch nicht anders geschmeckt als bei uns.
Besteht Ihr Küchenteam nur aus Experten aus dem Osten wie Ihnen?
Zu 100 Prozent sind das Westler aus dem Osten.
Was soll das heißen?
Die jungen Menschen sind teilweise noch in der DDR geboren, sie haben aber als Kinder kaum etwas mitbekommen und kennen im Prinzip nur den neuen Teil Deutschlands. Die sind immer wieder erstaunt, wenn man ihnen was vormachen kann.
Wobei zum Beispiel?
Das fängt beim richtigen Braten in der Pfanne an und reicht bis zum Anrichten der Teller. Oder die Witze! Was haben wir früher für politische Witze gerissen.
Geben Sie eine Kostprobe?
Sagt der Lehrling: "Chef, ich habe noch fünfzig Liter kochendes Wasser." Sagt der Chef: "Frier es ein, kochendes Wasser kann man immer gebrauchen." (lacht) In der alten "Domklause" sind viele Genossen eingekehrt und auch viele Wessis. Johannes Rau war Stammkunde, ebenso Katja Ebstein. Politiker wie Erich Mielke saßen natürlich auch bei uns. Hinten war noch ein separater Raum dran, die Zinnstube, da konnten sich Politiker austoben, und zwei Mann von der Stasi standen vor der Tür. Da hat man schon viele Witze gehört, die die sich erzählt haben.
Warum sind Sie Koch geworden?
Für Jungs gab es ja eigentlich nur Kraftfahrzeugschlosser, Kraftfahrzeugelektriker und so was. Ich hätte auch gern mit Autos zu tun gehabt, aber da reichten meine Zensuren nicht. Doch ich hatte Glück, als 1967 in Gera das Interhotel eröffnet wurde. 1968 suchten die noch Leute, und so fing ich eine Kochlehre an.
Also kein Traumberuf?
Teils, teils. Essen tut jeder, Koch ist ein Beruf mit Zukunft, und ein bisschen Interesse war schon da. Das Interhotel war damals völlig neu - Hotel Bismarck, so hießen Interhotels im Volksmund, weil jeder Biss ne Mark gekostet hat. Man war schon was, wenn man dort gearbeitet hat.
Welcher von den DDR-Klassikern, die Sie heute kochen, ist Ihr Lieblingsgericht?
Schweinesteak au four.
Also für die Nachgeborenen und Westler übersetzt: ein Nackensteak, überbacken mit Würzfleisch, Sauce Hollandaise und Käse. Haben Sie das auch in der alten "Domklause" am liebsten gegessen?
Ja. Es ist ein deftiges Gericht, wovon auch ein kräftiger Mann wie ich satt wird.
In der neuen "Domklause" hängt das Wandgemälde "Lob des Kommunismus", eines der Hauptwerke des einstigen DDR-Künstlers Ronald Paris, das früher im Statistikamt der DDR hing und zuletzt in der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen untergebracht war. Wie hielten Sie es damals und wie halten Sie es heute mit dem Kommunismus?
Das ist kein Thema für mich. Kommunismus wird es sowieso nicht geben. Marxismus-Leninismus hat mich damals auch nicht interessiert. In der Schule mussten wir ja den ganzen Mist durchmachen. Klar, es ist ein schönes Bild, aber ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.
Und das DDR-Museum, haben Sie das schon angeschaut?
Ich bin mal durchgegangen. Aber bisher hatte ich noch keine Zeit.
Was verbindet die heutige mit der damaligen "Domklause"?
Im Moment ist es nur die DDR-Küche, der Name und durch das Museum hat es einen DDR-Bezug. Schon räumlich ist alles ganz anders. Aber das kann man auch gar nicht vergleichen. Die "Domklause" zu DDR-Zeiten war etwas gehobener und ein Stück weg von der DDR. Kochmäßig ist bisher auch nur wenig aus der alten "Domklause" dabei. Das wollen wir bald mit Tagesgerichten versuchen, die es früher gab: Rumpsteak Strindberg oder Filetsteak Colbert. Das ist Rinderfilet mit Champignons, pochiertem Ei und Choron-Sauce, einer Variante der Sauce Hollandaise.
Ist es nicht ein Witz der Geschichte, dass Sie jetzt DDR-Klassiker kochen, mit denen Sie früher in den Valutahotels kaum zu tun hatten?
Das sind alte DDR-Gerichte, die es in den HO-Gaststätten oder bei der Mitropa gab. Es stimmt, die DDR-Küche kannte ich gar nicht. Das Interhotel in Gera war auch ein Messehotel. Das hieß, dass es zweimal im Jahr Kaviar, Filet und andere Produkte gab. Dann habe ich 1979 im Palasthotel angefangen. Deshalb hatte ich im Prinzip mit der richtigen DDR-Gastronomie, wie wir sie jetzt hier fahren, nicht sehr viel zu tun.
Da musste also erst die Mauer fallen, damit Sie die normale DDR-Küche kennenlernen?
Na ja, ein bisschen zu tun hatte ich damit schon. Wir hatten ja auch Würzfleisch und Steak Letscho auf der Karte.
Warum braucht man heute ein DDR-Restaurant?
Eigentlich gar nicht. Es geht um die Sachen, die wir zu DDR-Zeiten gerne und viel verkauft haben und die allgemein typisch waren, so wie unser Jägerschnitzel, also eine panierte Scheibe Jagdwurst. Das Publikum hier ist gemischt, aus Ost und West. Auch alte Bundesbürger sagen: Es schmeckt und macht satt. Jeder hat eben seine landestypischen Gerichte.
Vermissen Sie die DDR oder bestimmte Dinge aus der DDR?
Ich vermisse das alles nicht. Das Leben geht weiter. Vieles ist gut gewesen, was schlechtgeredet wurde. Nach der Wende war vieles schlecht, was früher gutgeredet wurde. Viele haben ja mit sonst was angegeben, was wir nicht überprüfen konnten. Man müsste das Beste aus dem Osten und aus dem Westen heraussuchen können. Aber das geht leider nicht.
Was war in Ihren Augen gut?
Es war alles ein bisschen geordneter und gesitteter. Das Schulsystem war gut, das Gesundheitswesen, das ganze Soziale. Zu DDR-Zeiten bin ich mit 800, 900 Mark weiter gekommen als heute mit 1.000 Euro.
Trauern Sie Ihren Privilegien von damals nach?
Ich war schon einer von den Privilegierten. Damals durfte ich das natürlich nicht sagen, aber ich hatte zu Weihnachten meine Erdbeeren unter dem Weihnachtsbaum. Ich hatte meine Kiwis, meine Kakis oder die Sternfrucht. Gegen ein kleines Entgelt konnten wir so was mit nach Hause nehmen. Ich will auf keinen Fall überheblich klingen, aber ich hatte die entsprechenden Beziehungen. Wenn mein Auto kaputt war, habe ich einen Kasten Wernesgrüner oder Pilsner Urquell in den Kofferraum gestellt und am nächsten Tag war das Auto repariert. Andere haben ein Vierteljahr auf einen Termin gewartet. Aber bewusst spielt das keine Rolle. Ich kann mich nur in viele nicht hineinversetzen, die meinen, alles über die DDR zu wissen. Sicher, es gab den Stasiknast in Bautzen, es gab die Stasi, man wusste nie, ob man bespitzelt wurde. Aber wir haben unsere Witzchen gerissen, ohne uns verstecken zu müssen. Ich bin natürlich nicht DDR-feindlich gewesen. Heute ist es ähnlich. Ich bin nicht gegen den Staat, aber einiges könnte man anders machen.
Sie klingen schon nostalgisch. Sehen Sie sich in erster Linie als ehemaliger DDR-Bürger?
Als Ehemaligen sehe ich mich nicht. Ich bin teils noch DDR-Bürger, der die Vergangenheit nicht vergessen will, nicht vergessen kann, und der der nachfolgenden Generationen beibringen will, wie es wirklich war. Als ich mich beworben habe, war hier in der "Domklause" alles noch eine Baustelle. Erst hatte ich gedacht, ich würde geschichtsmäßig zurückgehen in die alte "Domklause". Aber leider wurde aus dem alten Restaurant nichts übernommen.
Sie wurden übernommen!
Na ja, aber ich hatte andere Vorstellungen. Ich weiß nicht, wo die Originaltische und -stühle aus der alten "Domklause" hingekommen sind. Ich selbst habe nur einige Kleinigkeiten zu Hause. Zur Eröffnung vom Palasthotel habe ich zwei Jahre im Chinarestaurant gearbeitet, und natürlich sind da mal paar Stäbchen kleben geblieben. Und aus der Zinnstube habe ich einen Schnapsbecher und einen Aschenbecher aus Zinn. Aber jetzt muss erst einmal das Küchenteam zusammengestellt werden. Ein sozialistisches Kollektiv gibt es hier ja nicht.
Was glauben Sie, wie lange wird das dauern?
Mal sehen. Meine Probezeit ist ein halbes Jahr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern