Montagsinterview mit Autor Jörn Klare: "1.129.328,21 Euro"
Jörn Klare wollte genau wissen, was er selbst wert ist. Bei seiner Recherche fiel dem Journalisten auf, dass solche Berechnungen heute gang und gäbe sind. Mit der um sich greifenden Ökonomisierung, kritisiert er, wird die Würde des Menschen antastbar.
taz: Herr Klare, Sie haben ausgerechnet, wie viel Sie wert sind. Was kam raus?
Jörn Klare: 1.129.328,21 Euro
Auf den Cent genau?
Ich habe aus allen halbwegs gängigen Methoden der Menschenwertberechnungen, die mir untergekommen sind, den Durchschnittswert errechnet.
Deshalb heißt Ihr Buch auch: "Was bin ich wert?"
Ich habe mir wirklich überlegt, ob ich noch mit einer konkreten Zahl aufwarten soll, nachdem ich alle Abgründe und Fragwürdigkeiten der Menschenwertberechnungen gesehen habe.
Welche Fragwürdigkeiten?
Was ist ein Mensch wert? Er ist unendlich viel wert. Das müsste nach meiner Wahrnehmung die Antwort sein. Und dann stellt man fest, es gibt viele, die rechnen trotzdem. Ökonomen, Wissenschaftler, Leute in der Verwaltung. Sie kommen zu unterschiedlichsten Ergebnissen und rechtfertigen sie auch noch. Warum machen die das? Das wollte ich wissen.
Wie sind Sie darauf gekommen, die Frage nach Ihrem Wert zu stellen?
Ich recherchiere schon lange zum Thema Menschenhandel. In Albanien hab ich mich auf die Spur von albanischen Kindern gesetzt, die nach Griechenland verkauft werden. In Nepal auf die Spur von Leuten, die nach Indien verkauft werden. In Bolivien, Sambia und Deutschland habe ich das auch recherchiert.
Wie finden Sie Betroffene?
Das ist schwierig. Ein Menschenhändler ist mir nicht begegnet, aber ich habe Opfer getroffen. In Albanien sprach ich einmal mit einem Teenager ganz allgemein über das Thema. Da sagte sie: Meine Schwester wurde gestern für 800 Euro nach Italien verkauft. Kurioserweise erzählte sie es mit Schadenfreude. Dass es konkrete Summen gibt, hat mich irritiert. Und auch dass die Familien oft involviert sind.
Aber da ist ja immer noch ein Sprung von Menschenhandel zur Frage "Wie viel bin ich wert?".
Über Umwege ist Jörn Klare, Jahrgang 1965, zum Journalismus gekommen. Studiert hat er Psychologie und Theaterwissenschaft. Er hat auch lange Theater gemacht. Seine zweite Leidenschaft: Reisen. Von da hat er Texte mitgebracht. Keine weltverklärenden. Vielmehr sind Terror, Vertreibung, Diktatur, Menschenhandel die Themen seiner Reportagen.
Vom Menschenhandel ist er zu Menschenwertberechnungen gekommen. Das Buch dazu: "Was bin ich wert? - eine Preisermittlung".
Man erfährt nicht nur viel über die Abgründe der Menschenwertberechnungen, die Ökonomen anstellen, sondern auch über den Autor. Sein indischer Freund etwa meint, Klare könne 600.000 Euro für sich verlangen, wenn er sich verkaufen müsste. Seine Frau wiederum wäre bereit, einen Arm zu opfern, wenn er entführt würde. Sie soll erleichtert gewesen sein, dass es dann doch nur um Geld ging. Solche Episoden machen das Buch trotz aller Schwere leicht.
Erst als ich die Frage so gestellt habe, ist mir aufgefallen, wie oft Menschen in Werten berechnet werden. Lösegeldverhandlungen etwa. Denken Sie an Susanne Osthoff, die vor fünf Jahren im Irak entführt und von der Bundesregierung freigekauft wurde. Ich habe beim Außenministerium nachgefragt, wie sie den Wert verhandeln. Sagen die den Entführern: Also nein, 5 Millionen ist zu viel, wir bieten stattdessen 3? Sie haben sich natürlich nicht in die Karten gucken lassen. Auch die Entschädigungszahlungen nach dem 11. September. Das war unseliges Geschachere.
Sie meinen, ist man erst einmal auf die Spur gesetzt, stolpert man überall darüber, dass der Wert von Menschen verhandelt wird?
Ja, überall. Selbst in der U-Bahn. Ich hörte, wie zwei über einen Raubmord sprechen. Die Beute waren zehn Euro. Stell dir vor, für zehn Euro nen Mord, sagt der eine. Also zehntausend müssten es schon sein, sagt der andere. Nein, hundertausend, sagt der Erste. Das hat mich reingezogen und ich denke: Also nein, unter einer Million geht gar nichts.
Rausgekommen ist eine Recherchereise von der Sklaverei bis hin zu Organverkauf, Zwangsarbeitsentschädigung und anderen Kalkulationen.
Spermaverkauf, Blutverkauf, Medikamententests. Humankapital war natürlich ein Begriff, der schnell auftauchte. Viele Leute sagten auch, geh zu den Lebensversicherungen. Das war aber eine Sackgasse.
Warum?
Die berechnen nicht, was ich wert bin, sondern was durch die Versicherung bei meinem Tod rauskommen soll. Die Versicherer haben mich an die Gerichte verwiesen. Schmerzensgeldzahlungen etwa. Da bin ich auf Wissenschaftler gestoßen, die Schmerzensgeldzahlungen in verschiedenen Ländern verglichen haben und feststellten: Der Verlust der Beine ist im Durchschnitt 500.000 Euro wert, die Psyche 82.000 Euro. Rechnet man alle Körperteile zusammen, kommt raus, dass der Mensch 1,7 Millionen Euro wert ist. Man denkt: ein Witz - aber die Leute, die das machen, nehmen es ernst.
Das wirkt, als würde ständig und überall der Wert des Menschen berechnet?
Quantifizieren ist schwierig, aber Kritiker von Menschenwertberechnungen sagen, es wird immer mehr.
Woran liegt das?
Weil immer mehr ökonomisch begründet werden muss. Es gibt überall diese Kosten-Nutzen-Rechnungen. Die schließen Menschenwertberechnungen ein. So nach dem Motto: Die Investitionen in Verkehrssicherheit oder Umweltschutz dürfen nicht teurer sein als das, was sie an Nutzen bringen. Beispiel: Eine Ampel soll aufgestellt werden. Die rettet im Durchschnitt zwei Menschen. Was sind Menschenleben wert? Und was kostet die Ampel? Das ist in etwa die Kausalitätskette.
Muss man sich so auch das Desaster in Duisburg bei der Loveparade erklären?
Darüber habe ich auch nachgedacht. Ein billiger Imagegewinn für die Stadt soll die Loveparade sein, aber am Sicherheitskonzept wird gespart. Ich glaube allerdings nicht, dass Kosten-Nutzen-Rechnungen mit Menschenleben im Vorfeld gemacht wurden, sondern dass man halt gehofft hat, dass es gut geht. Mir ging es in meiner Recherche aber darum, mit Behörden zu sprechen, die Menschenleben tatsächlich berechnen. Interessanterweise benutzten sie dafür unterschiedliche Methoden, die sich auch noch widersprechen. Das Umweltbundesamt nimmt den "Wert eines statistischen Lebens" und kommt auf 1 Million. Das Bundesamt für Straßenwesen, das auf 1,2 Millionen kommt, orientiert sich im weitesten Sinne an der Humankapitalidee.
Was ist der Wert eines statistischen Lebens?
Es beruht auf einer Zahlungsbereitschaft. Eine bestimmte Zahl von Leuten werden gefragt, was sie bereit wären zu zahlen, um ein Todesrisiko auszuschließen. Die Summe die rauskommt, wird durch das Risiko dividiert. Simples Beispiel: In einem Stadion mit 10.000 Leuten wird durchgesagt, dass einer sterben muss. Was ist jeder bereit zu zahlen, um das zu vermeiden? Eins zu zehntausend ist das Todesrisiko. Da gibt es Leute, die zahlen viel, und Leute, die risikofreudiger sind. Am Ende gibt jeder im Durchschnitt, sagen wir, 200 Euro. Das wird durch ein Zehntausendstel geteilt. Raus kommt dann: 2 Millionen Euro. Das ist der Wert eines statistischen Lebens. Total beliebig ist das, trotzdem wird in den USA sehr stark damit gerechnet.
Und Humankapital?
Das persönliche Humankapital ist das, was ich bis zu meinem Lebensende noch verdienen werde. Da gibt es natürlich riesige Unterschiede. Manche legen als Referenzgröße auch fest, was in Bildung investiert wurde. Andere, was ein Mensch aus Sicht eines Unternehmens wert ist.
Und diese Berechnungen gelten wirklich als objektiv?
Sicher. Da hängen Wissenschaftskarrieren dran. Ich glaube aber, man kann den Wert eines Menschen nicht objektiv berechnen. Richtig gefährlich wird es, wenn die Zahlen politisch genutzt werden. Während der Bush-Ära ist der Wert des statistischen Lebens in den USA gesunken. Deshalb haben sich dann bestimmte Investitionen in Umweltschutz nicht mehr gelohnt.
Kann man an Ihrem persönlichen Wert Kultur ablesen?
Dass es diesen Wert überhaupt gibt, zeigt, dass die Ökonomomisierung in unserer Gesellschaft Priorität hat. Das sagt was über unsere Kultur.
Die Berechnungen sagen auch, dass Sie mehr wert sind als eine Frau.
Es gibt in der Tat Modelle, wo das, was eine Frau leistet, volkswirtschaftlich weniger wert ist als das, was ein Mann leistet. Entsprechend ist sie weniger wert.
Oder die Erkenntnis: dass Sie mehr wert sind als ein Bangladeschi.
Man denkt, man soll es vielleicht nicht so ernst nehmen, dass es unterschiedliche Werte zwischen Menschen unterschiedlicher Nationen gibt. Aber dann tauchen sie plötzlich in offiziellen Dokumenten auf. In einem Papier vom Weltklimarat steht, dass das Leben eines Menschen der Industrienationen dem Leben von 15 Bangladeschis entspricht. Denkt man es weiter, heißt das: Ökonomisch wäre es sinnvoll, mich zuerst zu retten, bevor man 14 Bangladeschis rettet. Einer macht die Rechnung und der andere nutzt sie dann.
Welche Gespräche fanden Sie am interessantesten?
Die mit den Medizinhistorikern, die über monetäre Menschenwertberechnungen geforscht haben. Die Historiker sehen, wo Menschenwertberechnungen hinführen können.
Wo führen sie hin?
Da braucht man nur 70 Jahre zurückzuschauen. Die schlimmste Pervertierung hatte man im Nationalsozialismus. Es wurde akribisch ausgerechnet, wie viel ein KZ-Häftling wert ist, der noch neun Monate Zwangsarbeit leistet, abzüglich Verbrennungs- und Kleidungskosten. Aber die Medizinhistoriker wussten auch von positiv besetzten Menschenwerten. Im 19. Jahrhundert etwa wurde damit signalisiert: Die Bevölkerung hat einen Wert. Es lohnt sich, in Hygienemaßnahmen, Kläranlagen, die Gesundheit der Menschen zu investieren. Wenn ihr das tut, wurde der herrschenden Klasse signalisiert, habt ihr was von der Bevölkerung. Daraus entwickelte sich die Sozialhygiene.
Es fällt auf, dass Menschenwertberechnungen heute oft gemacht werden, wenn es um Tod geht. Früher war der lebende Mensch die Ware. Sklaverei. Soldatenverkauf. Leibeigenschaft.
Tatsächlich rechnen viele vom Tod aus. Diese Kosten-Nutzen-Rechnungen, das sind eigentlich Lohnt-es-sich-Rechnungen. Lohnt es sich, ein Leben zu retten? Für mich hat das etwas Marktschreierisches.
Schöpfung wird ständig bewertet. Bodenschätze, Rohstoffhandel, Walfangqouten, Luftreinhaltungsemissionen - warum sollte es den Menschen nicht auch treffen?
Der monetäre Verlust von Artensterben wird mittlerweile ja auch berechnet. Ich finde diese Berechnungen fragwürdig.
Warum?
Dass man sagen muss, lasst doch den Regenwald stehen, weil es wirtschaftlich einen Schaden verursacht, ihn abzuholzen. Wer sich auf so eine Verwertungslogik einlässt, hat schon verloren. Die Natur ist ein Wert an sich, die Respekt verlangt. Sie darf nicht Opfer unseres Ökonomisierungsstrebens werden.
Kommt man der Logik der Ökonomen nicht am besten bei, indem man ihnen vorrechnet, was alles verloren geht?
Kann sein, aber das ist eine Position aus der Defensive. Wenn man sieht, wie beliebig mit solchen Wertberechnungen verfahren wird, dürfte es ein Leichtes sein, den Wert der Natur klein und die Wertschöpfungskette groß zu rechnen. Jetzt geht man noch von Durchschnittswerten aus. Was aber, wenn es plötzlich politisch opportun ist, genauer zu gucken? Dann wird etwa festgestellt: Aha, die Alten sind ein Kostenfaktor, kein Nutzenfaktor. Und was dann?
Kosten-Nutzen-Rechnungen werden doch ständig gemacht.
Stimmt. Ich mache das auch. Ich frag mich, flieg ich mit Lufthansa oder nehme ich eine Billigfluglinie. Für meine Tochter würde ich auch alles tun. Nachweislich mache ich das für ein Kind in Darfur nicht. Da kommt man schnell in so ethisch schwierige Bereiche. Ich habe mir von Ethikern aber erklären lassen, dass das ethisch okay ist. Das befreit mich nicht vom schlechten Gewissen. Wenn aber der Staat anfängt, solche Berechnungen zu machen, dann wird es schwierig. Dann sind nicht mehr alle Menschen gleich.
Wofür plädieren Sie?
Der Staat hat uns zu schützen. Natürlich kann man nicht alle vor allem schützen. Ein gewisses Risiko ist zumutbar. Aber die Solidarität in der Gesellschaft darf nicht ausgehebelt werden.
Was verliert man, wenn man die Kosten-Nutzen-Rechnungen zur Prämisse macht?
Es ist ein Angriff auf die Würde des Menschen. Ja, ich weiß, Würde ist ein Begriff, der nicht gerade en vogue ist.
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