Montagsinterview Schriftstellerin Elfriede Brüning: "Oft denken die Leute, ich sei nicht mehr da"
Die hundertjährige Autorin Elfriede Brüning, zu DDR-Zeiten so etwas wie die Chronistin der kleinen Leute, ist noch immer ganz nah am Zeitgeschehen.
taz: Frau Brüning, im November 2010 sind Sie hundert geworden. Haben Sie sich vorgestellt, so alt zu werden?
Elfriede Brüning: Nee, nie. Ich habe immer gedacht, ich würde das Jahr 2000 nicht erleben. Jahrzehntelang habe ich sehr unter Migräne gelitten, das war ganz fürchterlich. Aber mit 70 war das plötzlich weg.
Wie empfinden Sie das hohe Alter?
Naja, wissen Sie, eine reine Freude ist es nicht. Die Altersgefährten sind alle weg. Man ist doch recht allein geblieben. Als ich vor sechs Jahren in das Haus hier mit altersgerechten Wohnungen gezogen bin, habe ich die Nachbarn von der Etage auf ein Glas Wein eingeladen. Es gab keine Gegeneinladung, wir sehen uns auch nicht. Das Essen bringt der fahrbare Mittagstisch. Einmal in der Woche kommt eine Freundin, die einkauft und sauber macht.
Gibt es etwas, was Sie dem Alter abgewinnen können?
Da fällt mir nichts ein. Ich bin ans Haus gebunden und kann schlecht laufen. Bis vor kurzem bin ich ja noch Auto gefahren.
Am 8. November 1910 wurde Elfriede Brüning als Tochter eines Tischlers und einer Näherin in Berlin geboren. In der Weimarer Republik veröffentlichte sie ihre ersten journalistischen Arbeiten. Die Machtübernahme der Nazis verhinderte 1933 das Erscheinen ihres ersten, sozialkritischen Romans.
Brüning verlegte sich auf Unterhaltungsliteratur und hatte 1934 einen Erfolg mit "Und außerdem ist Sommer". In den Folgejahren war sie im kommunistischen Widerstand tätig. 1935 verbrachte sie ein halbes Jahr in "Schutzhaft". 1942 bekam sie als "Spätgebärende" mit 32 Jahren eine Tochter.
Während des Krieges lebte sie auf dem Gut ihrer Schwiegereltern in der Magdeburger Börde, seit 1950 wohnt sie wieder in Berlin. Geschrieben hat Brüning Erzählungen, Reportagen, Drehbücher und 28 Romane. Ihr letztes Buch, "Gedankensplitter", erschien 2006. Viele ihrer Texte behandeln Frauenschicksale und den Widerstand im Dritten Reich.
Auf www.elfriede-bruening.de ist ein Video über ihre letzte Fahrt im eigenen Auto mit 98 Jahren zu sehen - ein Ausschnitt eines Dokumentarfilms über ihr Leben, der am 19. Mai im Kino Babylon Mitte gezeigt wird. Vorher liest Brüning aus ihrer Autobiografie "Und außerdem war es mein Leben". Die Veranstaltung beginnt um 20 Uhr.
Zu DDR-Zeiten waren Sie wahrscheinlich eine der ersten Frauen, die privat ein Auto fuhren. Mit 99 Jahren haben Sie den Führerschein abgeben. War das schlimm?
Mein Auto fehlt mir sehr. Nachbarsleute hatten mir die Verkehrspolizei auf den Hals geschickt, weil ich angeblich beim Einparken ein Auto beschädigt hätte, was aber gar nicht der Fall war. Ein halbes Jahr später bekam ich einen Brief von der Führerscheinstelle, dass sie Zweifel an meiner Fahrtüchtigkeit hätten. Ich sollte ein amtsärztliches Gutachten beibringen. Die 60 Euro dafür hätte ich ja noch aufbringen können. Aber die meinten, wenn das Gutachten positiv ausfällt, wären dennoch weitere Untersuchungen fällig. Da dachte ich, wenn die mein Geburtsjahr sehen, ist es eh vorbei, also habe ich den Führerschein zurück geschickt. Das Auto habe ich behalten. Ein Bekannter fährt mich, wenn ich wohin muss.
Sie haben das Kaiserreich erlebt, die Weimarer Republik, zwei Weltkriege, den Sozialismus in der DDR und seit über 20 Jahren das wiedervereinigte Deutschland. Welche Zeit hat Sie am meisten geprägt?
Die Weimarer Zeit war äußerst interessant. Ich stamme ja aus einem kleinbürgerlichen Haus. Mein Vater war Tischlermeister, der sich 1918 selbständig gemacht und eine Werkstatt in der Schliemannstraße in Prenzlauer Berg hatte. Während der Wirtschaftskrise ab Ende der 20er Jahre konnte er seine kleine Familie nicht mehr ernähren. Er musste sein Gewerbe abmelden und stempeln gehen. Meine Eltern mieteten schließlich einen Laden in der Koloniestraße im Wedding, und meine Mutter, die sehr gerne las, kam auf die Idee, eine Leihbücherei zu eröffnen. Mein Vater zimmerte die Ladeneinrichtung, mein Bruder pinselte das Schild. Ich war damals als Kontoristin tätig und bekam 100 Mark im Monat. Das Geld musste ich an die Firma verpfänden, die uns die Bücher lieferte.
Und: klappte das?
Als die Bücher kamen, waren wir enttäuscht. Es waren ganz wenige, so dass wir sie mit der Breitseite ins Regal stellen mussten. Und die Firma hatte auch keine Bestseller, sondern Ladenhüter geschickt. Wenn man zwei Bücher verlieh, kriegte man 20 Pfennig, die Miete betrug aber 160 Mark. Das musste schiefgehen. Wir bekamen bald einen Räumungsbefehl vom Hauswirt. Bei Nacht und Nebel mussten wir den Laden räumen.
Wie ging die Geschichte weiter?
Ich war ja damals schon in die kommunistische Partei eingetreten, weil ich der Meinung war, man müsse die Gesellschaftsordnung ändern. Wir hatten sieben Millionen Arbeitslose. Nachdem ich in unserer kommunistischen Wohngruppe von unserer Misere erzählt hatte, schleppten einige kräftige Genossen alles aus unserem Laden auf die Straße und verteilten das untereinander. Später haben wir alles heil wieder bekommen - bis auf das letzte Tüpfelchen. Das war ein ganz großer Akt der Solidarität. Meine Eltern waren eigentlich völlig unpolitisch, aber diese Sache hat meinen Vater doch sehr beeindruckt. Später mieteten wir einen Laden in Moabit, der drei Eingänge hatte und in dem wir wieder eine Leihbibliothek betrieben. Als Hitler an die Macht kam und die Genossen fragten, ob sie ein Zimmer für ihre illegalen Sitzungen mieten könnten, stellte ihnen mein Vater einen Raum zur Verfügung.
Wer traf sich da?
Walter Ulbricht, der spätere DDR-Staatsratsvorsitzende, kam beinahe jeden Tag. Wilhelm Pieck - ab 1949 Präsident der DDR - kam auch. Ulbricht war sehr unnahbar. Er richtete nie ein persönliches Wort an uns, an ihn war nicht ranzukommen. Aber Pieck war gemütlich, sehr jovial und nett. Einmal kam sogar Ernst Thälmann, bis zum Verbot 1933 Vorsitzender der KPD, zu uns.
Ihre Erinnerungen an diese fast 80 Jahre zurückliegende Zeit sind noch sehr präsent.
Ja, die habe ich noch sehr deutlich in Erinnerung. Die letzten 20 Jahre aber sind so rasch vergangen, dass sie mir wie maximal fünf Jahre vorkommen.
Mit 15 Jahren schrieben Sie Ihren ersten Zeitungsartikel, über einen Schönheitswettbewerb: die Wahl der Berliner Sommerkönigin 1927. Wie kam es dazu?
Schon als Schulkind habe ich ganze Oktavhefte vollgeschrieben, Aufsatzschreiben war mein bestes Fach. Als wir bei der Schulentlassung nach der zehnten Klasse nach unseren Berufswünschen gefragt wurden, sagte ich, ich möchte Journalistin werden. Ich wollte unbedingt schreiben. Meine erste Lehrstelle war in einem sogenannten Pressebüro. Das war ein Schwindelunternehmen. Das Büro war am Kurfürstendamm, eine 7-Zimmer-Wohnung, und ich habe nie einen Artikel vom Chef gesehen. Das Pressebüro bestand nur aus einem Briefbogen und einem Stempel: Mit diesen Utensilien erschnorrte sich der Chef Theaterkarten und Zeitungsabonnements.
Und was haben Sie dort gemacht?
Meine Aufgabe bestand darin, die Zeitungen zu sortieren, unter anderem das Zwölf-Uhr-Blatt. Eines Tages sah ich Fotos von jungen Mädchen, die sich an einer Schönheitskonkurrenz beteiligten. Da dachte ich sofort: Darüber müsste man schreiben! Ich ging zum berühmten Wintergarten-Varieté, durfte mitmachen und schrieb darüber. Sofort bekam ich einen Brief von der Redaktion des Zwölf-Uhr-Blatts: Ich sollte vorbei kommen, weil mein Artikel Talent verrate. Ein Redakteur dort gab mir dann jede Menge Tipps, worüber ich schreiben konnte: "Der achtjährige Kraftmensch von Oranienburg" oder "Fünf Generationen unter einem Dach", also vorwiegend Schmonzetten. Eines Tages war mir das nicht mehr genug. Ich schrieb einen Beitrag und sagte zu meiner Mutter, der muss ins renommierte Berliner Tageblatt.
Wie haben Sie das geschafft?
Ich war damals Sekretärin bei Filmkunst, eine sehr exklusive Zeitschrift, die berühmte Mitarbeiter hatte wie die Regisseure G. W. Papst und Fritz Lang. Unsere Redaktion bestand nur aus meinem Chef, einem Ungarn, der auch noch sehr jung war, und mir. Ich wusste, dass er den Feuilletonchef des Berliner Tageblatt, Fred Hildenbrandt, kannte. Mein Chef hätte mich sicher mit ihm bekannt gemacht, aber er war gerade im Urlaub. Ich war zu ungeduldig, um auf seine Rückkehr zu warten, und machte etwas, was schon halb kriminell war: In seinem Namen schrieb ich an Hildenbrandt: "Sehr geehrter Kollege, ich sende Ihnen hier den Beitrag einer jungen Autorin, die ich für sehr begabt halte." Es kam gleich ein Brief von ihm, und er veröffentlichte den Beitrag in der Sonntagsausgabe neben Artikeln von Thomas Mann und Alfred Polgar. Ich war ungeheuer stolz.
Zu DDR-Zeiten haben Sie sich mit unpopulären Themen beschäftigt: Sie schrieben Reportagen über vernachlässigte Kinder, in dem Roman "Regine Haberkorn" geht es um eine Hausfrau, die berufstätig wird und in Konflikte mit Mann und Kind gerät. Oft wurde Ihnen vorgeworfen, die FDJ- und Parteiarbeit nicht genug zu würdigen. Hat Sie das getroffen?
Ich habe immer kämpfen müssen, meine Bücher wurden immer sehr diskutiert und kritisiert. Jahrelang hieß es, ich sei kleinbürgerlich, weil ich zwischenmenschliche Probleme statt Planerfüllung behandelt habe. Natürlich hat mich das verletzt. In dem Buch "Regine Haberkorn" gibt es eine Passage, in der die Hauptperson zu ihrem Meister geht und sich Rat holt. Er verehrt sie ein bisschen und schenkt ihr Rosen. Das fand eine Rezensentin oberkitschig. Andere nahmen mich in Schutz und fragten, ob der Mann der Frau einen Band Politökonomie in die Hand hätte drücken sollen.
Sehen Sie sich als ostdeutsche oder gesamtdeutsche Autorin?
Ich habe sechs oder sieben Bücher nach der Wende geschrieben: Kein einziges ist in den Westzeitungen rezensiert worden. Uns Schriftsteller, die wir bis zuletzt in der DDR geblieben sind, hat es für den Westen nicht gegeben.
Am Ende Ihrer Autobiografie "Und außerdem war es mein Leben" heißt es: "Wir gleichen Waisen, die ihre Eltern durch Unfall verloren haben. Und die großspurige Bundesrepublik hat uns zwangsadoptiert." Sie vermissen die DDR?
Ja, natürlich. Ich habe als Autorin sehr gerne in der DDR gelebt, trotz all der Einschränkungen. Das Wichtigste war, dass wir von unserer Arbeit leben konnten. Heute muss man ja noch Geld mitbringen, wenn man gedruckt werden will. So tief bin ich allerdings noch nicht gesunken. Wenn ich meine Rente nicht hätte, hätte ich überhaupt nichts. Die Mauer mussten wir damals bauen. Es war schlimm, aber die Leute sind uns davon gelaufen.
Wie ging es Ihnen, als die Mauer fiel?
Ich dachte, das ist der Anfang vom Ende. Wir Kulturschaffenden haben bei der großen Demonstration im November 1989 auf dem Alexanderplatz für eine bessere DDR gekämpft. Wir waren fest überzeugt, dass man das schaffen kann.
Was hätte man besser machen können?
(überlegt lange) Ach, so vieles. Ich will Ihnen erzählen, warum ich von Anfang an für die DDR war: 1947 ließen sich mein Mann und ich scheiden. Ich hatte auf jeden Unterhalt verzichtet und nur die Bedingung gestellt, das Sorgerecht für unsere Tochter Christiane zu haben. Das wurde mir auch zugesprochen. Aber zuständig für das Verkehrsrecht war ein Westberliner Gericht, weil mein geschiedener Mann in Westberlin lebte. Dieses Gericht hatte beschlossen, dass er seine Tochter alle 14 Tage zu sich holen konnte, auch zu allen Festtagen und ein paar Wochen im Sommer. Ich hatte immer Angst, er würde mir das Kind nicht zurück bringen. Es gab ja noch kein Rechtshilfeabkommen. Das spitzte sich dann so zu, dass ich Christiane ein Vierteljahr überhaupt nicht in die Schule geschickt habe, weil ich Angst hatte, er würde sie kidnappen. Als 1949 die DDR gegründet wurde, war nicht mehr das Gericht in Westberlin zuständig, sondern Oranienburg, weil ich in Birkenwerder wohnte. Das war für mich eine unglaublich große Erleichterung: Von nun an durfte sich der Vater mit seinem Kind nur noch im Osten treffen.
In dem 1999 erschienenen Buch "Jeder lebt für sich allein" schreiben Sie über Ihre Erfahrungen nach der Wende, etwa über Vereinsamung im Alter und die Kluft zwischen Ost und West. Können Sie dem wiedervereinigten Deutschland auch Positives abgewinnen?
Naja, man kann überall Blumen kaufen und kriegt überall Obst. Der Alltag ist einfacher geworden.
2006 erschien Ihr letztes Buch, "Gedankensplitter", eine "aktuelle Zeitdiagnose" einer 96-Jährigen. Im Nachwort heißt es: "Ich bin mir sicher, dass unsere Nachkommen einmal wissen wollen, was das eigentlich war, diese ominöse DDR." Wie erklären Sie Ihren zwei Urenkeln, die 1989 und 1992 geboren wurden, was die DDR war?
Meine Urenkel interessiert das nicht. Ich vermisse das oft. Die könnten doch Fragen an mich stellen - aber das tun sie nicht.
Nehmen Sie noch Anteil am Zeitgeschehen?
Ja, ich lese jeden Tag das Neue Deutschland und die Junge Welt.
In der Liebe, bekennen Sie in Ihrer Autobiografie, haben Sie nicht viel Glück gehabt, die "große Leidenschaft" sei Ihnen versagt geblieben. Eine Arbeit, schreiben Sie, könne beglückender sein als die Liebe, beständiger als die Leidenschaft und nie so quälend wie die Eifersucht. Nehmen Sie auch deshalb noch immer gern Einladungen zu Lesungen an?
Das ist ganz wichtig. Da bin ich unter Gleichgesinnten. Aber das Interesse könnte größer sein. Oft muss ich mich selber anbieten, weil die Leute denken, ich sei nicht mehr da (lacht).
Schreiben Sie an einem neuen Buch?
Nein. Ich muss mich zwingen, wenn ich nur einen Brief zu schreiben habe. Mir fällt auch nichts mehr ein. Ich habe mich ausgeschrieben.
Haben Sie Ihre letzten Bücher auf einem Computer geschrieben?
Nein, auf meiner Schreibmaschine. Ich habe leider versäumt, rechtzeitig auf Computer umzustellen. Ich überlege aber, das Versäumte nachzuholen.
Hat man mit 100 Jahren noch Träume?
Nee. Ich wollte gerne noch eine Schiffsreise nach Norwegen machen. In meiner Jugend habe ich viel Knut Hamsun gelesen, seitdem zieht es mich nach Norwegen. Ich hatte schon eine Reise gebucht, aber die habe ich wieder zurückgezogen. Es geht mir gesundheitlich nicht gut genug. Den Traum werde ich wohl leider begraben müssen.
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