Montagsinterview: Prime Lee alias Le Van Bo, Kommunikator: "Ich stelle mir Berlin als Spielwiese vor"
Der Kommunikator Le Van Bo ist ein großer Optimist. Der einstige Hiphopper aus dem Wedding und heutige Architekt will die Welt verschönern und Mut machen. Deshalb hat er auch den Hartz IV-Sessel entworfen: Die Bauanleitung gibts kostenlos im Internet.
taz: Herr Van Bo, Sie sagen, Sie wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben. Wofür?
Le Van Bo: Ich bin 1979 als Flüchtlingskind nach Deutschland gekommen. Meine Eltern flohen in der Zeit, als Laos kommunistisch wurde. Für mich war gar nichts selbstverständlich hier. Alles, was ich in Deutschland gelernt habe - in der Schule, auf der Straße, ja sogar beim Zivildienst -, war immer wie ein Geschenk.
Zweijährig kam Le Van Bo 1979 nach Deutschland. Zuerst nach Kulmbach. Ein paar Jahre später landete seine Familie im Wedding, wo Van Bo aufwuchs und als Sprayer und Rapper wilde Jugendjahre erlebte - aus diese Zeit stammt auch sein häufig verwendeter Aliasname Prime Lee.
Van Bos beruflicher Weg war nicht geradlinig: Er arbeitete als Kellner und Betreuer bei Jugendreisen, versuchte, als Rapper in der Musikindustrie zu landen, er hatte eine Werbeagentur. Später schaffte er es bei Sat.1 und RTL 2 als Schauspieler in die Vorabendsendung KTI, bevor er Architekt wurde - wobei seine Aufgaben da auch eine Mischung aus Feldforschung, Entwurf und Marketing sind.
Die dritte Seite von Le Van Bo: Er initiert Kommunikationsprojekte. Auf seiner Website hartzivmoebel.blogspot.com stellt er Designs von Möbeln ins Netz, die jeder nachbauen kann. Sein Hartz-IV-Sessel wird auch auf dem "DMY International Design Festival" vom 9. bis 13. Juni präsentiert. Außerdem geht er mit dem Verein Kiez-Tank-Stelle (www.kieztankstelle.de) an Schulen und versucht, Jugendliche zu motivieren, etwas aus ihrem Leben zu machen.
Sind Ihre Eltern Intellektuelle und mussten deshalb aus Laos fliehen?
Meine Mutter ist Schneiderin, mein Vater Elektroinstallateur. Von ihm habe ich, glaube ich, den Mut, neue Wege zu gehen. Er hat sich in seinem Pass den Namen Sternschnuppe eintragen lassen. Hier weiß man ja nicht, dass seng strahlen heißt und dao Stern.
Warum hat Ihr Vater das gemacht?
Er war immer auf der Suche nach Identität. Er wurde von Chinesen ausgesetzt und in Laos von Laoten großgezogen. Er behauptet, er sei Chinese. Ich denke aber, er ist Laote mit chinesischem Migrationshintergrund. Er hatte ein Elektrogeschäft. Das hat er Sternschnuppenelektronik genannt. Und als er dann nach Deutschland kam, sagte er: "Ich heiße Sternschnuppe." Er hat sich immer wieder eine neue Identität gegeben. Für mich ist es bis heute nicht anders. Deshalb interessiert mich auch, was diese Stadt zu bieten hat - weil sie mir Antworten gibt auf meine Fragen, wer ich bin und was ich hier soll.
Wie schafft es Berlin, Ihnen Antworten zu geben?
Schauen Sie sich nur die Architekturgeschichte an oder die Innovationen, die es hier gab. Ganz viele sind aus Deutschland und Berlin. Sogar die politischen Systeme - von Sozialismus, Kommunismus, Marxismus bis hin zum Faschismus, das ist ja fast alles: made in Germany. Auf die Spuren von all dem begebe ich mich. Und ich merke, es gibt hier offensichtlich etwas wie ein historisches Wissensgut, und es ist kostenlos. Jeder, der will, kann dieses Erbe an Wissen, an Errungenschaften einatmen.
Können Sie das anschaulicher erklären?
Vor Kurzem war ich in der Amerika Gedenkbibliothek in Kreuzberg. Dort sind mir die Stühle aufgefallen: Hey, die kommen dir bekannt vor. Ich habe mich mit der Geschichte von Stühlen sehr intensiv beschäftigt, deshalb weiß ich, dass diese Stühle von einem der wichtigsten Nachkriegsarchitekten entworfen wurden, Egon Eiermann, der auch das Ensemble um die Gedächtniskirche geplant hat. Er war einer der Ersten, die wieder an das Bauhaus angedockt haben. An die Nüchternheit, an die Moderne, an das Konzept von "form follows function".
Wie war das, als Sie diese Stühle in der Bibliothek entdeckten?
Ich fand das toll. Ich fragte, ob ich einen Stuhl kaufen kann. Da hat mich die Bibliothekarin entgeistert angeguckt: "Was? Diese hässlichen Stühle? Die würde ich nicht mal nehmen, wenn man sie mir nachwerfen würde", sagte sie. Da wurde mir klar: Wenn man sich nicht mit den Dingen auseinandersetzt, kann man sie auch sehr hässlich finden.
Sie haben rausgekriegt, dass es offensichtlich nicht um den Stuhl, sondern um das Wissen um den Stuhl geht. Aber wie kriegen Sie jetzt wieder den Bogen zur Stadt, die Ihnen Antworten bei Ihrer Identitätssuche gibt?
Den Stuhl kann sich nicht jeder leisten. Aber das Wissen um den Stuhl, das bekommt jeder. Das ist kostenlos. Alles ist also nur eine Frage der Perspektive. Wenn man sich das Wissen aneignet, entwickelt man eine andere Beziehung zu den Dingen, und dann fängst du auf einmal an, diese Dinge zu lieben. Auch banale Dinge. Einen Stuhl eben, der zigfach in irgendwelchen Konferenzsälen und auch in der Amerika Gedenkbibliothek steht.
Wer sich in Beziehung setzt zu den Dingen, dockt leichter in einer Gesellschaft an - ist das die These?
Ja. Auf jeden Fall entdecke ich in Berlin überall etwas. Zum Beispiel auch Straßenzüge, Stadtarchitektur. Ich habe vor Kurzem entdeckt, dass ein Teil von Rom in Berlin steckt. Eine ganz wichtige Stadterweiterung aus dem 18. Jahrhundert - der Mehringplatz mit dem Rondell und den Straßen, die sternförmig davon abgehen - ist fast eins zu eins der Piazza del Popolo in Rom nachempfunden. Das heißt doch, ein bisschen Rom steckt auch in unserer Stadt. Man muss gar nicht nach Rom, um dort Urlaub zu machen. So was schenkt einem die Stadt, wenn man sich auf sie einlässt.
Reden Sie sich die Dinge nicht schön?
Und wenn schon?!
Stühle sind für Sie sehr wichtig. Auf Ihrer Website kann man sich den Bauplan für einen Stuhl - den 24-Euro-Sessel - herunterladen. Was steckt dahinter?
Eigentlich war das auch so ein Glücksfall. Ich wollte etwas tischlern - also richtig tischlern mit Holzverbindungen und nicht einfach nur zusammennageln. Da habe ich ein einfaches Design entworfen. Form follows function. Das Holz lässt man sich aus einem Standardbrett zuschneiden. Dann braucht man noch ein paar Teppichgurte und zwei Kissen. Das Ganze kostet ungefähr 24 Euro und ist in 24 Stunden fertig. So entstand der Hartz-IV-Sessel - ein hochwertiges Designmöbelstück mit einem Mehrwert.
Welchem?
Wenn man etwas selbst gemacht hat und es gelungen ist, fühlt man sich gut. Außerdem fördert es die Kommunikation, weil sich der, der keine Holzverbindungen kann, Hilfe beim Tischler holen muss. Und wenn man zwei von den Sesseln baut, kann man jemanden einladen und sich unterhalten. Ich versuche mit dem, was ich kann, die Leute zu ermutigen, ein bisschen mehr zu machen aus dem, was da ist.
Ist Mutmachen Ihre Art, der Gesellschaft etwas zurückzugeben?
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber es gibt so ein latentes Unglücklichkeitsgefühl. Viele Menschen - nicht nur Hartz-IV-Empfänger - wissen nicht so recht, wohin mit sich. Und ich glaube, was dahintersteckt, ist die Suche nach einer Aufgabe oder nach Identität. Ich will den Leuten Möglichkeiten zeigen, wie man sich besser fühlen kann.
Woher kommt denn dieser Wunsch?
Ich habe selbst immer Vorbilder gehabt, die mich gefördert haben. Die haben mich dazu gebracht, positiv zu denken. Ich sag halt: Yes you can, du kannst es schaffen. Aber die, die mit meinem Optimismus nichts anfangen können sagen: No, nicht jeder can. Du hast halt Glück gehabt, Le Van Bo. Aber ich weiß nicht, ob das alles nur Glück ist. Ich habe auch viel dafür getan.
Heute sind Sie Architekt. Hätte Ihr Leben auch anders verlaufen können?
Ja klar. Ich war ja in der HipHop-szene in Berlin aktiv. Da sind auch einige gestorben, weil sie zu viel Drogen genommen haben. Oder beim S-Bahn-Surfen damals sind manche gegen einen Mast geknallt. Ich lag auch schon mal unter der S-Bahn bei irgendeiner Aktion. Das hätte danebengehen können.
Es gab also eine wilde Phase?
In der Pubertät bin ich nachts losgezogen, und es war immer das Gleiche: Ich wollte jemand sein. Ich wollte bekannt und berühmt sein. Beim HipHop ist das Grundmotiv Fame: berühmt werden, der King sein auf der Straße. Man schreibt nicht umsonst nur seinen Namen an die Wand und keine Botschaften.
Ihr Name als Sprüher war Prime?
Ja, Prime, der Erste. Von Optimus Prime, dem Transformer, dem Spielzeugroboter, dem guten Helden. Ich habe auch immer an das Gute geglaubt. Es gibt viele böse Sprüher, die andere übersprühen und Battle - Wettkämpfe - anzetteln. Das war nicht mein Ding. Ich war kein Scheibenritzer. Von Drogen habe ich auch die Finger gelassen. Ich wusste immer, wo meine Grenzen sind. Ich wollte die Welt verschönern. Gut, die Farben - früher habe ich wie ein Schlot geklaut. Diese ganzen Sprühdosen, die konnte ich nicht bezahlen. Die meisten habe ich geklaut. Ich wurde zum Glück nie erwischt. Aber beim Sprühen wurde ich oft erwischt. Da habe ich meine erste Erfahrung mit Gewalt gemacht. Ich wurde einmal schwer vermöbelt von Polizisten. Da war ich richtig erschüttert.
Sie sind im Wedding groß geworden.
In meinem Umfeld gab es auch sehr viele traurige Geschichten. Da war einer, der fand Nazisprüche und Hitler plötzlich gut. Wir haben uns eigentlich gut verstanden auf dem Hof. Alle. Da waren auch ziemlich viele Türken darunter. Es gab halt so ein Fasziniertsein von verbotenen Dingen. Einige wurden Neonazis, einige wurden Rocker, einige wurden Alkoholiker oder Heroinabhängige, einige kamen in psychiatrische Behandlung. Ein Mädchen wurde von seinem Freund umgebracht.
Das sind Ihre Jugendgeschichten?
So bin ich aufgewachsen in der Hochstraße am Humboldthain. Aber was wieder schön war, das war der Schlagzeugunterricht an der Humboldt-Grundschule. Kostenlos - das war wieder so ein Geschenk. Ich hab da ein Rhythmusgefühl gelernt. Und Architektur hat sehr viel mit Rhythmus zu tun.
Noch mal zurück zum Mutmachen. Wird Ihre Mission verstanden?
Warum nicht? Warum soll man das Schöne nicht verstehen? Ich stelle mir Berlin wie eine Spielwiese vor und versuche, mich da auszutoben. Wenn ich einen Baum mit Früchten sehe, sage ich allen Leuten, geht doch zu dem Baum mit den Früchten und lasst euch zu essen geben, weil die Äpfel wahnsinnig lecker schmecken.
Was heißt das im übertragenen Sinn?
Ich versuche den Weg, den ich selber gegangen bin, anderen zugänglich zu machen. Ich weiß, dass viele das gar nicht wollen. Sie bleiben in ihrem Gebüsch hocken und schmollen. Das ist auch ein Konzept. Meines dagegen ist: Wenn man sich auf seine Umwelt einlässt, bekommt man ganz viel geschenkt.
Deshalb entwickeln Sie auch die Hartz-IV-Möbel und haben einen Verein mitgegründet, der Kiez-Tank-Stelle heißt. Wie tanken Sie den Kiez auf?
Wir machen zum Beispiel die Schooltalks. Das ist eine Talkshow an einer Weddinger Schule. Ich moderiere das als Talkmaster und lade Persönlichkeiten ein, die ähnliche Hintergründe wie die Schüler und Schülerinnen haben, damit sie sich mit ihnen identifizieren können. Das sind alles Leute, die was Interessantes machen. Einen interessanten Job haben, bekannt sind aus dem Fernsehen oder Kino oder von YouTube. Oder es sind Leute aus dem Kiez, die was Mutiges gemacht haben, für das sie Anerkennung verdienen.
Dieses Jahr waren etwa ein Theatermacher mit griechischen Wurzeln aus dem Wedding, eine Moderatorin mit eriträischem Hintergrund und ein polnischstämmiger Buchautor da - alles Leute, die etwas erreicht haben, von dem die Jugendlichen nur träumen können.
Woher wissen Sie, dass sie das nicht auch erreichen werden? Nicht jeder kann Bundeskanzlerin werden oder Moderator bei MTV. Aber jeder kann lernen, sein Mundwerk zu benutzten. Jeder kann lernen, zu präsentieren oder sich so durchzubeißen wie Angela Merkel. Ich glaube, das Glück in Deutschland wird viel zu sehr an harten Faktoren gemessen.
Welchen?
Wie viel Geld verdienst du? Welchen Job hast du? Wie heißt dein Beruf eigentlich? Aber um glücklich zu sein, muss man die Frage nach den Lebensentwürfen stellen. Wie muss man leben, damit man glücklich wird? Viele haben ja die Vorstellung, dass man nach einem bestimmten Muster leben muss: Schule, Ausbildung, Familie und in die Rentenkasse einzahlen. Die Gäste, die ich eingeladen habe, sind ganz oft aus diesem System ausgeschert. Das kann ganz viel bewirken, wenn die Jugendlichen das sehen.
Bei den Schooltalks wurde auch deutlich, dass da Jugendliche sitzen, die gar nicht begriffen haben, dass sie Teil einer Gesellschaft sind.
Sie begreifen ja noch nicht einmal, dass sie Teil einer Stadt sind. Man kann so krasse Sachen erleben. Neulich hat ein Bekannter erzählt, dass seine Nachbarin bei ihm Hilfe gesucht hat, weil sie eine Stromnachzahlung hatte. Da stellte sich raus, sie wusste gar nicht, dass heißes Wasser Geld kostet. Die Zusammenhänge sind den Leuten nicht klar. Viele denken auch, ich kann meinen Müll einfach auf die Straße stellen. Es gibt ja jemanden, der das aufhebt. Und es gibt tatsächlich jemanden, der es aufhebt. Aber das kostet ja alles Geld. Die Leute verlieren immer mehr den großen Überblick über die Dinge und über sich.
Da wollen Sie aufklären und der Gesellschaft auf diese Weise etwas zurückgeben?
Man kann nur zurückgeben, wenn man das Gefühl hat, man hat etwas bekommen, was großartig ist. Nur dann. Und ich finde Berlin großartig. Ich bin mir sicher, wenn die Stadt eine Person wäre, würde sie mich lieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau