Montagsinterview Pilzberater Hansjörg Beyer: "Kaum Grenzen fürs Pilzwachstum"
Bei Pilzen macht ihm kaum einer etwas vor: Hansjörg Beyer ist schon seit seiner Kindheit von den Gewächsen fasziniert. Als offizieller Pilzberater des Landes Berlin gibt er sein Wissen gern weiter.
taz: Herr Beyer, Berlin ist eine Großstadt, und Pilze wachsen im Wald. Warum braucht Berlin einen Pilzberater?
Hansjörg Beyer: Berlin ist ausgesprochen pilzreich! Die Stadt ist sehr grün, hat viele Waldgebiete, Gärten und Parks. Zu den meisten Jahreszeiten kann man irgendwo im Stadtgebiet oder im Umland Pilze finden. Dem Pilzwachstum in Berlin sind an sich kaum Grenzen gesetzt.
Der Spezialist: Beyer brachte sich anhand eines Pilzbestimmungsbuchs Lesen bei. Speisepilze interessieren den 43-Jährigen privat nur noch bedingt - ihn reizen seltene, schwierig zu bestimmende Sorten. Er ist geprüfter Pilzsachverständiger nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Mykologie.
Der Vereinsmensch: Pilze untersucht Beyer gern mit seinen Freunden von der Pilzkundlichen Arbeitsgemeinschaft. Wenn er nicht dort ist, hält er sich womöglich bei den Vereinskollegen vom Fahrgastverband Igeb auf. Bahnfahren nämlich ist sein zweites Hobby.
Der Berater: Vor Kurzem hat Beyer sein Büro im Botanischen Garten bezogen. Bisher dekoriert nur ein Stapel Bestimmungsbücher den Schreibtisch. Die zieht Beyer gern zu Rate, wenn montags zwischen 14 und 16.30 Uhr Sammler und Hobbygärtner mit ihren Funden vorbeischauen. Die Tätigkeit ist nicht ehrenamtlich.
Der Verwaltungsangestellte: An den restlichen Wochentagen arbeitet Beyer in Spandau in der Verwaltung. Studiert hat er Politikwissenschaft an der FU. Beyer wohnt im Westend - wo er von seinem Balkon aus schon mal nach Pilzen im Innenhof Ausschau hält.
Wo wachsen sie denn?
Das fängt bei mir im Innenhof meiner Wohnung im Westend an. Sogar vom Balkon aus kann ich mitunter interessante Pilzarten wachsen sehen. Zum Beispiel den Verblassenden Täubling; ich hatte auch schon Birkenröhrlinge im Innenhof, und Nelkenschwindlinge, da freut man sich besonders. Es ist nicht so, dass man zum Pilzesammeln in entlegene Gegenden muss.
Aber eigentlich brauchen doch Pilze einen Baum.
Es gibt aber auch eine Menge Pilzarten, die nicht mit Bäumen in Symbiose leben, sondern sich von abgestorbenem Material ernähren, zum Beispiel die Champignons. Viele von ihnen kann man auf Wiesen oder Weiden finden, also außerhalb von Wäldern. Neulich habe ich auf der Wiese eines Schwimmbads zahlreiche Pilze gefunden. Ich bin dann mit der kurzfristig zweckentfremdeten Kühlbox herumgegangen und habe meinen Bedarf gedeckt. Zum Schwimmen bin ich deshalb erst später gekommen.
Sind Sie von Gästen angesprochen worden?
Nein, das hat mich gewundert. Ich bin dort ja in der Nähe der Sonnenanbeter herumgestapft.
Wie ist das mit Straßenbäumen: Können die, die ja durch Lärm und Abgase gestresst sind, Partner sein für Pilze?
Na klar! Der Netzstielige Hexenröhrling zum Beispiel, den findet man in Berlin häufiger. Er steht in Symbiose mit Laubbäumen im Stadtgebiet.
Wie sieht er aus?
Er hat einen gelb- bis olivgrünen Hut, rote Röhren und einen genetzten Stiel, wie der Name schon sagt. Nicht alle Menschen vertragen übrigens diesen Pilz, er ist in jedem Falle roh giftig.
Wo gehen Sie sammeln?
Das hängt von Jahreszeit und Witterung ab. Im Herbst gehe ich gern in die Wälder um Berlin herum, aber auch in den Grunewald. Ich biete da auch eine Wanderung vom Ökowerk aus an. Zum Sammeln fahre ich auch in ein mir bekanntes Revier in Mecklenburg-Vorpommern, dann aber privat.
Und wie oft?
Alles in allem schon ziemlich häufig. Aktuell habe ich mit meiner Partnerin eine Reise in den Harz geplant, da fahren wir mit dem Zug hin und werden hoffentlich entlang der Schmalspurbahn interessante Pilzarten finden. Das hängt auch davon ab, wie das Wetter wird. Insgesamt muss man sich nach dem Pilz richten: Jede Pilzart hat eine eigene Erscheinungszeit, manche wachsen mitten im Winter oder im Frühjahr, und dann suche ich natürlich das Gebiet auf, in dem der Pilz gerade wachsen dürfte.
Und Ihre Freundin geht mit?
Ja, schon. Ich gehe natürlich mit meiner Partnerin in die Pilze, aber auch mit Familienmitgliedern. Ich bin auch aktiv im Berliner Fahrgastverband Igeb und biete gelegentlich für Vereinsfreunde einen Ausflug an: Wir machen dann eine kombinierte Bahn-und-Pilz-Tour. Da wird das Pilzinteresse mit dem für Schienenverkehr verbunden, das geht ja ganz gut, wenn man mit der S-Bahn bis Hennigsdorf fährt und weiter in die Neuruppiner Ecke. Da findet man einiges.
Wann gehen denn Pilzsammler los?
Ich gehe meist eher früh los, aber in Berlin ist das nicht unbedingt nötig. Man findet auch am Nachmittag noch etwas.
Weil wir in einer Großstadt leben? Mein Opa hat immer gesagt: "Vor sechs Uhr morgens los, sonst waren schon die anderen Leute da."
Das hängt davon ab, welche Arten man sammelt. Bei bekannteren Arten wie Steinpilzen oder Echten Pfifferlingen mag das durchaus so sein. Aber da ich auf die weniger gebräuchlichen Arten ausweichen kann, habe ich das Problem nicht. Es bleibt immer etwas übrig.
Gibt es hier überhaupt Pfifferlinge?
Ja.
Wo denn?
Das verrate ich nicht. Es gibt mehrere Fundstellen in Berlin und im Umland auch.
Ist das eine Pilzkundler-Regel, nie den Ort zu verraten?
Bei Speisepilzen trägt man das nicht allzu weit nach außen. Es mag durchaus ein bisschen Egoismus dabei sein - man möchte nicht, dass jemand anders dort noch welche findet. Das hängt vielleicht mit dem Sammelcharakter zusammen. Ein Modelleisenbahner will ja auch nicht unbedingt, dass ein Konkurrent erfährt, wo man die ein oder andere Lok günstig ergattern kann. In der Berliner pilzkundlichen Gemeinschaft spielt der Speisewert von Pilzen übrigens eine eher untergeordnete Rolle, da geht es in erster Linie um die systematische Pilzbestimmung. Nicht alles, was dort bestimmt wird, sieht auf den ersten Blick überhaupt wie ein Pilz aus. Auch hinter bizarren Krusten auf Ästen verbergen sich spannende Pilzarten. Hier wird keine Geheimhaltung betrieben, im Gegenteil: Es zeichnet den Finder aus, dass er mitteilt, wo er einen interessanten Pilz gefunden hat. Dann kann in der Kartierungsliste ein Punkt gemacht werden.
Was ist Ihr Lieblingspilz?
Einer meiner Favoriten ist der Rotbraune Milchling. Er wächst gern in sandigen Kieferwäldern, von denen Brandenburg viele hat. Der Pilz ist nur eingeschränkt genießbar.
Und deswegen ist es Ihr Lieblingspilz?
Ja, das ist interessant: Er wächst eben oft, wenn er einmal vorkommt, in großer Zahl. Man kann ihn fast mit der Sense ernten. Unbehandelt ist er beißend scharf - wer ihn nicht abkocht und gegebenenfalls wässert, kann heftige Darmprobleme bekommen. Nach entsprechender Behandlung lässt sich der Milchling aber gut für Pilzsalate verwenden oder in Essig einlegen.
Was passiert, wenn man zu viel davon ist?
Zu viel sollte man generell von Pilzen nicht essen, weil sie als schwer verdaulich gelten.
Haben Sie sich schon einmal vergiftet?
Nein.
Woher kommt eigentlich Ihre Leidenschaft für Pilze?
Das ist in der Kindheit gewachsen, genau wie das mit dem Bahnfahren. Meine Großeltern haben in einem Haus am Bahndamm gewohnt, das hat mich geprägt. Mein Pilz-Vorbild war mein Onkel. Ich war sieben Jahre alt, als es zum ersten Mal in die Pilze ging, und zwar in den Grunewald. Das hat mich fasziniert, diese Pilze und die verschiedenen Farben. Wie das Wasser so in den Trichtern ihrer Hüte stand, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Es war ein sehr pilzreicher Sommer damals, im Jahr 1973.
Der Botanische Garten hat Sie zu Beginn ihrer Tätigkeit als Pilzberater damit angekündigt, dass Sie anhand eines Pilzbuchs lesen gelernt hätten. Das ist doch nur ein PR-Gag, oder?
Nicht unbedingt. Ich habe das Lesen tatsächlich auch mithilfe eines Pilzbuchs gelernt. Eines meiner ersten Bücher war das "Taschenbuch der wichtigsten heimischen Pilze" von Katharina Bickerich-Stoll. Dieses Buch hat für mich eine wichtige Rolle dabei gespielt, erstes pilzkundliches Wissen aufzubauen.
Und das hat sich gehalten, die Pubertät hindurch und im Erwachsenenalter?
Im Prinzip schon. Es hat mit der Vielfalt der Materie zu tun - und vielleicht mit der Freude am Sammeln. Man geht los und weiß nicht so genau, wo genau man etwas findet - es sind immer wieder Herausforderungen und Überraschungen dabei. Gleichzeitig wird das Interesse immer tiefer und man erschließt sich neue Welten. Über manche Arten haben wir in der Pilzkundlichen Arbeitsgemeinschaft schon stundenlang diskutiert, weil die Bestimmung schwieriger wurde als anfangs gedacht.
Ist das noch ein Hobby?
Vom Beruf her bin ich Politikwissenschaftler, mein Geld verdiene ich in der Verwaltung. Für mich ist die Pilzkunde fast eher eine Berufung. Vielleicht ist das von Einflüssen geprägt, die wir mit unserem menschlichen Verstand nicht erfassen können …
Haben Sie das Gefühl, dass Sie einen Auftrag haben?
Manchmal schon. Ob das etwas bewirkt, ist eine andere Frage. Jedenfalls freue ich mich, wenn mir Menschen während der Pilzberatung signalisieren, dass das etwas gebracht hat. Noch besser ist es natürlich, bei Menschen Begeisterung zu wecken, die über das Sammeln von Speisepilzen hinausgeht.
Wer sucht denn überhaupt noch Pilze?
Na ja, viele haben sie im Garten stehen und möchten dann wissen, was es für eine Art ist. Andere finden etwas bei einem Waldspaziergang.
Die klassischen Pilzsammler, gibt es die noch?
Mein Eindruck ist, dass die Zahl der leidenschaftlichen Pilzkundler etwas zurückgeht.
Zurück zu Ihnen und Ihrer Pilz-Geschichte. Wie war das eigentlich zu Mauerzeiten, da waren die Fundstellen doch im wahrsten Sinne des Wortes begrenzt?
Ich hatte eine recht große Verwandtschaft in der DDR, wir waren öfters "drüben", auch in der pilzreichen Schorfheide. Aber auch im damaligen Westberlin gab es viele Pilze - etwa in den Grünanlagen zwischen den Hochhäusern, die in den 60er und 70er Jahren hochgezogen wurden. Außerdem war es damals noch kühler, und es scheint auch nicht so viele Wildschweine in den stadtnahen Wäldern gegeben zu haben wie heute. Damals waren die Berliner Wälder nicht so schnell ausgetrocknet. Ob heute in der Region der Stickstoffeintrag höher ist und die Wälder dadurch stärker "verkrautet" sind als vor 30 Jahren, müsste man einmal näher klären.
Noch vor der Wende explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Wie sind Sie damit umgegangen?
Die Tschernobyl-Krise hat mich verunsichert - so ging es ja vielen Menschen damals. Speisepilze aus der Natur habe ich erst einmal gemieden. Immerhin konnte ich damals meine theoretischen Kenntnisse erweitern und zu Pilzkundlern Kontakte aufbauen. Aber die Praxis ruhte bis Ende der 80er Jahre.
Jetzt ist das vorbei mit der radioaktiven Strahlung in Pilzen?
In Berlin und Brandenburg ist die Belastung eher gering. Außer um Rathenow, wobei ich nicht weiß, warum. Einige Arten speichern darüber hinaus mehr Radioaktivität, andere weniger. Der Maronenröhrling etwa ist stärker belastet, der Rotbraune Milchling speichert leider auch vergleichsweise viel Radioaktivität. Insgesamt gilt: Wer eine Handvoll Pfifferlinge zubereitet, die er im Umland gefunden hat, geht ein relativ geringes Risiko ein.
Kann ich Pilze heute noch irgendwo auf Radioaktivität testen lassen?
Ich habe davon seit Langem nichts mehr gehört. Man müsste einmal beim Umwelt- oder Gesundheitsministerium anfragen.
Ist das noch ein Thema?
An sich schon. Es wird noch viel gefragt. In Deutschland gibt es ja auch noch stärker belastete Gebiete, in Süddeutschland etwa. Dort sollte man sich lieber informieren, wie hoch die Kontamination ist, bevor es in die Pilze geht. Auch ist es nicht verkehrt, sich bei gekauften Pilzen nach der Herkunft zu erkundigen. Auf Märkten sind schon hochradioaktiv belastete Echte Pfifferlinge verkauft worden, die vermutlich aus der Ukraine stammten.
Sind schon einmal Leute mit psychedelischen Pilzen zu Ihnen gekommen?
Ich habe einmal eine Pilzwanderung geleitet, bei der eine Teilnehmerin solche Pilze gefunden hat. Wir mussten ihr untersagen, die Pilze mitzunehmen, um sie für Rauschzwecke zu verwenden - sie fallen unter das Betäubungsmittelgesetz. Es soll Fälle geben, wo Menschen nach dem Konsum solcher Pilze psychische Schäden behalten haben.
Wachsen diese Pilze in Berlin?
Einzelne Arten gibt es, die eine psychotrope Wirkung haben. Ein Risiko besteht auch darin, diese Pilze mit anderen Giftpilzen zu verwechseln. Auf Anhieb erkennt man die nicht immer.
Apropos Vergiftung: Stimmts, dass man Pilzgerichte nicht aufwärmen soll?
Wenn der Pilz bei der Zubereitung frisch war und man das Essen über Nacht im Kühlschrank in einem Porzellangefäß aufbewahrt, kann man es am nächsten Tag durchaus aufwärmen.
Essen Sie auch Champignons aus der Dose?
Fast nie, nein.
Pfifferlinge aus dem Supermarkt?
Nein. Was ich hier finden kann, suche ich lieber selbst. Und so gut Echte Pfifferlinge auch schmecken: Es gibt viele andere interessante Speisepilze.
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