Montagsinterview Chaban Salih: "Die Emotionalität der Masse ist Teil jedes Großevents"
Die Organisatoren von Massenveranstaltungen wie der Pilgerreise nach Mekka oder der Fußball-WM können viel voneinander lernen, sagt Chaban Salih. Der Kommunikationsforscher ist gerade vom Hadsch zurückgekehrt
taz: Herr Salih, Sie haben den Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, als gläubiger Muslim, aber auch als Wissenschaftler gemacht. Welche Haltung überwog, als Sie die Kaaba, das geografische Zentrum des Islam, zum ersten Mal gesehen haben?
Ganz klar die Ergriffenheit. Das ist ein überwältigendes Gefühl. Die Kaaba ist ein Pol, der alles anzieht, ein Ort, nach dem sich Muslime auf der ganzen Welt sehnen. Wer dorthin kommt, hat das Ziel erreicht oder jedenfalls ein Ziel. Das ist ein sehr emotionaler Moment. Als ich 2003 das erste Mal da war, hatte mein Schwager mir vorher geraten, mich der Kaaba mit gesenktem Kopf zu nähern und erst aufzublicken, wenn ich so nahe bin, dass ich sie in ihrem vollen Ausmaß sehen kann. Ich habe das aber nicht ausgehalten, ich habe immer geschummelt und hochgeblinzelt, weil ich das so gerne sehen wollte. Man will ja dieses Gefühl der Ergriffenheit spüren.
Chaban Salih hat Kommunikationswissenschaft, Sport und Politik studiert und bereits seine Masterarbeit über den Hadsch, die Pilgerfahrt der Muslime nach Mekka, als Großevent geschrieben. Nun arbeitet er an einer Dissertation, in der er die Kommunikationsstrukturen des Hadsch und der Fußballweltmeisterschaft vergleicht.
Salihs Mutter stammt aus Deutschland, sein Vater aus Ägypten. Der 33-Jährige wurde in Berlin geboren und wuchs im Wedding bei seiner Mutter auf. Mit 16 begann er sich für Religion zu interessieren, mit 18 entschloss er sich, den islamischen Glauben anzunehmen. Seine katholische Mutter habe darauf "super reagiert", erinnert er sich: Sie hat ihm seinen ersten Gebetsteppich geschenkt.
Während seines Studiums engagierte sich Salih für Inssan, einen Verein junger Muslime in Berlin. In den vergangenen zwei Jahren verbrachte er mit seiner Frau und den zwei Kindern mehrere Monate bei der Familie seines Vaters in Ägypten und den in den Türkei lebenden Verwandten seiner Ehefrau. "Wir wollten unsere Wurzeln kennenlernen", sagt Salih, "auch wenn meine Frau und ich uns als Deutsche betrachten."
Im Monat des Hadsch sind fast drei Millionen Pilger in Mekka. Ist da Ergriffenheit oder Besinnlichkeit überhaupt möglich?
Es ist richtig: Die Enge, die Massen, das führt zu vielen Dingen, die einen stören, die schwer auszuhalten sind. Etwa in Sachen Hygiene oder auch, wenn man sich inmitten einer Menschenmenge befindet, die in eine Richtung drängt, und man gar nicht genau weiß, wohin es geht und ob am Ende genug Platz für alle da ist. Ein Problem ist auch der Verkehr, die vielen Busse und Staus. Aber das gehört dazu, es hat ja niemand versprochen, dass der Hadsch ein gemütlicher Spaziergang ist. Und auf der anderen Seite hat die Masse ja etwas zu bieten: Man trifft Menschen aus aller Welt. Es sind mehr als 180 Länder, aus denen die Pilger kommen. Man lernt sich schnell kennen, sobald man sich irgendwo hinsetzt, kommt man mit anderen Leuten ins Gespräch. Ich kann mir vorstellen, dass ich das WM-Finale 2006 zwischen Italien und Frankreich mit mehr Aufmerksamkeit verfolgt hätte, wenn ich allein in einer VIP-Lounge gesessen hätte. Aber der Reiz solcher Ereignisse besteht doch gerade auch darin, dass man sie gemeinsam, in der Masse macht. Mehr Emotionalität entsteht mit der Zahl der Teilnehmer. Das ist für mich eine Weisheit Gottes, die hinter der Anweisung steht, dass alle Pilger den Hadsch in einem bestimmten Zeitraum machen sollen: Man soll das gemeinsam erleben. Das ist ja auch etwas, was so ein Großevent ausmacht: die Emotionalität in der Masse.
Ist da die Verbindung zwischen Fußball und Hadsch?
Es ist ein Berührungspunkt, und es gibt weitere Berührungspunkte. Beide Veranstaltungen sind Massenevents. Ich habe in meiner Masterarbeit, die ich über die organisatorischen Herausforderungen des Hadsch verfasst habe, das Hadsch-Ministerium als größte Eventagentur der Welt bezeichnet.
Das klingt so widersprüchlich: eine Behörde des höchst konservativen und traditionsbewussten saudischen Staates, der das Heiligste hütet, was der Islam hat, als weltgrößte Eventagentur?
Ja, genau. Man kann das Ministerium zwar nicht für das nächste Riesenkonzert buchen. Aber die Organisation des Hadsch kriegen sie ziemlich gut hin. Auch wenn es kleinere Dinge gibt, die besser laufen könnten. Ich beschäftige mich jetzt in meiner Dissertation mit Kommunikationsstrategien. Dazu gehört, wie Pilger an bestimmten Stationen des Hadsch über Gefahren und Risiken oder über besondere Vorschriften aufgeklärt werden, aber auch, wie Mitarbeiter informiert werden. Das vergleiche ich mit den entsprechenden Strategien bei der Fußball-WM.
Gibt es viele Überschneidungen?
Es gibt große Gemeinsamkeiten und große Unterschiede: In Mekka gibt es beispielsweise ein ziemlich gutes System zur mobilen Betreuung der Pilger, das bereits seit Jahrhunderten praktiziert wird. Die Motawifien sind Saudis, die dafür verantwortlich sind, Pilgergruppen aus bestimmten Ländern von der Ankunft bis zur Abfahrt zu betreuen, und deren Familien diese Aufgabe praktisch seit Generationen übernehmen. Jeder von ihnen kennt in der Regel die Sprache und die kulturelle Eigenart seiner Gruppe und ist für sie Ansprechpartner in allen Fragen. Wenn eine Gruppe etwa einen bestimmten Platz in einem Tal buchen will, dann organisieren sie das. Das ist eine Art von Betreuung, die es bei anderen Megaevents nicht gibt. Da gibt es Infopoints oder Hotlines - das alles gibt es beim Hadsch auch. Aber es gibt eben auch die ganz persönliche Bezugsperson. Etwas anderes, was mich sehr beeindruckt hat, war eine Nichtraucherkampagne, die das Gesundheitsministerium im Jahr 2009 durchgeführt hat. Ich finde die Idee toll, so ein Event dafür zu nutzen, so ein Thema anzusprechen. Die Menschen gehen zurück in ihre Länder und tragen diese Gedanken dann mit.
Das klingt sehr modern.
Das hört sich modern an, ja. Aber dass der Hadsch genutzt wird, um neue Gedanken zu verbreiten, das gab es schon immer. Neu ist, dass man heute mit modernen Kommunikationsmedien hunderttausende von Menschen gleichzeitig erreichen kann. Dafür gab es früher nicht die entsprechenden Mittel.
Gesundheit ist ein wichtiges Thema beim Hadsch, der ja immer auch Ansteckungsgefahren birgt.
Ja, und gerade das Gesundheitsministerium macht seine eigene, sehr professionelle und gute Öffentlichkeitsarbeit dort. Das ist vergleichbar mit der Kommunikationsarbeit westlicher Ministerien. Ich habe gehört, dass die Organisatoren der Fußball-WM in Südafrika bei den Saudis angefragt haben, wie sie das Thema Schweinegrippe angegangen sind. Man will von den Erfahrungen der Hadsch-Organisatoren profitieren. Umgekehrt war vor der WM 2006 eine saudiarabische Delegation in München, um sich dort darüber zu informieren, wie man die Kontrolle und Steuerung großer Menschenmassen auf engem Raum dort gemanagt hat. Ich bin also nicht der Erste, der auf die Idee kam, dass man hier Vergleiche ziehen kann.
Es fand also niemand Ihren Gedanken ketzerisch, die Fußball-WM und den Hadsch miteinander zu vergleichen? Schließlich ist das eine eine sehr religiöse, das andere eine sehr weltliche Veranstaltung.
Es gab manche, die gesagt haben, man könne das nicht vergleichen, weil am Hadsch ganz andere Gruppen von Menschen teilnehmen als an der Fußball-WM: Ärmere etwa, Analphabeten. Aber die an der Organisation Beteiligten waren sehr offen. Wenn sich die Organisatoren großer Events austauschen, profitieren schließlich alle davon. Es geht darum, den Ablauf solcher Veranstaltungen möglichst reibungslos zu gestalten, ohne Unfälle und Gefahren. Wenn man sich darum nicht kümmerte, würde man seiner Verantwortung gegenüber Menschenleben nicht gerecht werden - ganz unabhängig vom Inhalt des Events.
Aber muss denn der Hadsch unbedingt so ein Massenevent sein? Könnte man nicht sagen: 100.000 Pilger pro Hadsch - jeder, der will, kommt einmal im Leben dran?
Das ist ein Zwiespalt, in dem sich die Organisatoren befinden: Da werden sie von zwei verschiedenen Seiten kritisiert. Die eine sagt, um mehr Sicherheit zu gewährleisten, dürfen es nicht zu viele Pilger sein. Die andere Seite sagt: Viele müssen jetzt schon Jahrzehnte warten, bis sie am Hadsch teilnehmen können - nötig sei also eine Aufstockung der Pilgerzahlen. Es hat ja jedes Land eine bestimmte Quote von Pilgern, die es jährlich schicken darf. Und man will natürlich so vielen Muslimen wie möglich die Gelegenheit bieten, zum Hadsch zu gehen.
Die religiöse Pflicht erfüllt man mit einem einzigen Hadsch - aber man kann so oft pilgern, wie man will. Kann man das nicht beschränken?
Es gibt ja Beschränkungen: Man muss körperlich fit genug und finanziell in der Lage zum Hadsch sein, darf keine Schulden haben. Zudem ist die Pilgerfahrt anstrengend, es wird deshalb empfohlen, sie eher in jüngeren Jahren zu machen. Und es gibt viele Muslime, die sagen: Wer einmal da war, sollte sich überlegen, ob er unbedingt noch mal gehen muss. Ich habe das auch immer vertreten und hätte nicht ein zweites Mal am Hadsch teilgenommen, wenn ich nicht darüber forschen würde. Ich habe meine Pflicht erfüllt und muss nun nicht anderen den Platz wegnehmen.
Was haben Sie neben den wissenschaftlichen für persönliche Erkenntnisse beim Hadsch gewonnen?
Es ist toll, Muslime aus so vielen verschiedenen Herkunftsländern zu treffen. Seit dem Hadsch habe ich E-Mail-Kontakte zu Muslimen aus Uganda, Iran, Kasachstan und New York. Ein Freund von mir, der in den Siebzigerjahren zum Hadsch war, hatte in einem überfüllten Bus seinen Sitzplatz für einen alten schwarzen Pilger frei gemacht. Der fing an zu weinen und erzählte, dass er aus Südafrika komme und noch nie ein Weißer für ihn aufgestanden sei. Die Hadsch ist gelebte Toleranz.
Es gibt nie Ärger?
Natürlich regt man sich auch mal auf, wenn man mit so vielen Menschen zusammen ist. Aber ich fand es erstaunlich, wie friedlich es zugeht, wie sehr sich die Menschen unter Kontrolle haben. Jeder konzentriert sich darauf, seine Pilgerfahrt richtig zu machen.
Wie ist es denn richtig?
Die Rituale, die im strengen Sinne zum Hadsch gehören, dauern fünf bis sechs Tage, und es gibt genaue Vorschriften darüber, wann und in welcher Reihenfolge man sie zu erledigen hat. Man muss bestimmte Stellen zu bestimmten Tageszeiten aufsuchen.
Es können doch nicht wirklich alle drei Millionen Pilger gleichzeitig an einem Ort sein?
Doch. Die vorgeschriebenen Zeiten für die Rituale sind aber nicht so eng, dass diese innerhalb einer halben Stunde stattfinden müssten. Aber es begeben sich alle etwa gleichzeitig zu bestimmten Orten - das muss man sich vorstellen, als ob alle BerlinerInnen gleichzeitig einen Ausflug machen. Den ersten Tag verbringen die Pilger im Tal Mina vor Mekka. Dort ist eine riesige Zeltstadt aufgebaut. Am nächsten Tag gegen sie zur Ebene von Arafat, die von Mina etwa zwei bis drei Stunden entfernt ist. Arafat sollen sie bis zum Mittag erreichen, und dort verbringen sie den Tag bis zum Abend im Gebet. Es ist der wichtigste Tag des Hadsch. Man darf seine Wünsche an Gott äußern und bittet um Vergebung seiner Sünden. Es gibt den Glauben, dass Gebete in Arafat eine besondere Wirkung haben.
Und danach?
Danach verbringt man die Nacht gemeinsam in dem Gebiet zwischen Arafat und Mina unter freiem Himmel. Das ist eine unbeschreibliche Szenerie, man liegt dort auf dem Wüstenboden, der mittlerweile größtenteils asphaltiert ist, Männer und Frauen zusammen, Musliminnen und Muslime aus aller Welt. Viele dieser Menschen könnten sich sonst niemals vorstellen, eine Nacht auf diese Weise zu verbringen. Der nächste Tag ist der, an dem das Opferfest beginnt. Morgens sammelt man kleine Kieselsteine, genau 49 Stück. Die werden zurück nach Mina mitgenommen, wo drei Säulen sind, die den Teufel symbolisieren. Erst wird eine der Säulen mit sieben Steinen beworfen, dann rasieren die männlichen Pilger ihr Haar, alle gehen zurück zur großen Moschee nach Mekka, wo die Kaaba steht, und umrunden diese sieben Mal. Im Andenken an Abrahams Frau muss dann eine Wegstrecke zwischen zwei Hügeln bei der großen Moschee mehrmals zurückgelegt werden. Dann sind die Rituale für diesen Tag beendet, und die Pilger können wieder ihre normale Kleidung anlegen. Das ist eine Erleichterung, denn in dem aus zwei weißen Tüchern bestehenden Pilgergewand, dem Ihram, muss man immer sehr aufpassen auf seine Scham. Am nächsten und am übernächsten Tag geht man dann wieder zu den drei Säulen und bewirft jede mit sieben Steinen.
Werden die Steine später wieder an den Ort, an dem sie gesammelt wurden, zurückgebracht, oder wie kommt es, dass dort immer wieder welche zu finden sind?
Ja genau, da werden Millionen kleiner Steine gesammelt und zurücktransportiert. Das ist ziemlich verrückt: In diesem Jahr, habe ich gelesen, sind sie wegen der Schweinegrippe vorher sogar desinfiziert worden!
Was nehmen Sie von Ihrem zweiten Hadsch mit?
Man wünscht sich, dass das, was man sich beim Hadsch vornimmt, seine Schwächen und Fehler abzulegen, für ein Leben halten würde. Vielleicht tut es das bei manchen. Ich muss immer wieder neu an mir arbeiten. Aber es hilft, sich an den Hadsch zu erinnern, um das Gefühl zu stärken, dass Gott da ist.
Zum Schluss: Haben Sie einen Vorschlag, was die Organisatoren der Fußball-WM vom Hadsch lernen könnten?
Am Hadsch können fast alle Menschen teilnehmen, den Besuch der WM kann sich dagegen kaum jemand leisten. Es wäre schön, auch dieses Megaevent für nicht so wohlhabende Schichten zu öffnen.
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