Moers Festival: Fragen statt Antworten
Entdeckungen aus allen Musikkulturen der Welt. Das Moers Festival gewinnt die Zuneigung seines Publikums.
Soeben hat Dean Blunt am Flügel Platz genommen und sich eine Zigarette angezündet, sein Bodyguard, ein Man of Colour, Position bezogen, ebenso wie die Cellistin, der Schlagzeuger, Bassist und der Tenorsaxofonist, da ertönt eine mechanische Stimme laut von allen Seiten in der Moerser Festivalhalle: „Wegen einer Betriebsstörung schließen wir in wenigen Minuten das Gebäude. Bitte befolgen Sie die Anweisungen unserer Mitarbeiter und verlassen sie auf dem kürzesten Weg das Gebäude.“
Es dauert einige Sekunden bevor dem zu nächtlicher Stunde noch immer musikhungrigen Publikum klar wird, dass diese Anweisung nicht Teil der Performance ist. Das grelle Saallicht geht an, die Musiker verlassen die Bühne und die Evakuierung nimmt ihren Lauf.
Bei der zuvor am vergangenen Sonntagabend mit Spannung erwarteten Interpretation der 3. Sinfonie des polnischen Komponisten Henryk Górecki durch den Multiinstrumentalisten Colin Stetson im Verbund mit einem, seinen Klangvorstellungen entsprechenden Ensemble, läuteten nur die inneren Alarmglocken. Verstärkung und Effekte schienen sämtliche Zwischentöne der Streicher und Klarinetten zu besiegeln und den so bei Górecki instrumentierten Klagegesängen in Endlosschleife ihre Sinnlichkeit zu nehmen. Diese Aufführung, von Pathos und Kitsch überfrachtet, war augenscheinlich das erste Musical auf der Bühne der Festivalhalle.
Seit 2014 ist sie die feste Heimstatt des für seine abenteuerlustige Programmgestaltung international hoch angesehenen Moers Festival. Am vergangenen Freitag und den drei Pfingstfeiertagen wartete die Halle mit noch besserer Akustik und erstmals mit der künstlerischen Lichtgestaltung der Engländerin Cate Carter auf. Colin Stetson präsentierte als Artist in Residence der 44. Festivalausgabe an allen vier Abenden verschiedene Projekte. Seinem Duo mit der Geigerin Sarah Neufeld folgte eine lautstarke Jagd an der Seite des Bassisten Trevor Dunn und des Schlagzeugers Greg Fox.
Kaum fassbare Zirkularatmung
Am Montagabend blies Stetson in seiner Soloperformance auf Alt-, Tenor- und Basssaxofon jeglichen entstandenen Zweifel an seinem Wirken buchstäblich in den Wind. Seine Zirkularatmung ist kaum fassbar, durch eine Fülle simultan gespielter Töne, Rhythmen und Geräusche beschwört er die Musik aus tiefen Gesteinsformationen herauf und infiltriert diesen Mehrklang mit stimmlich artikuliertem Sirenengesang. Stetson nährt die Imagination einer menschlich erzeugten Geofonie: die Bewegungen im Erdinneren müssen sich einfach so anhören wie seine Minimal-Brachial-Musik.
Den Gesteinsformationen des Bryce Canyon in Utah/USA sind die Kompositionen abgelauscht, welche die französische Pianistin Eve Risser mit ihrem White Desert Orchestra zu atemberaubendem Eigenleben erweckt. Die Besetzung mit Trompete, Flügelhorn, Flöte, Fagott, Posaune, Klarinetten und Saxofonen plus Rhythmusgruppe kreiert eine musikalisch transzendierte Gegenwelt voll irisierender Wesen und vollkommen unvorhersehbarer Ereignisse.
Wie selbstverständlich die MusikerInnen dabei interagieren und die Tönungen der Blech- und Holzbläser zugunsten der gemeinsamen Schwingung in mitunter kühnen Zeitverschiebungen irrlichtern lassen, ist eine bis dato ungehörte Offenbarung. Als sich im Auditorium unversehens dutzende Menschen mit Zischlauten erheben, durch die Sitzreihen wandern und schließlich, als großer Chor vereint, vor der Band auf der Bühne singen, ist die Utopie von mehr Frauenpräsenz im Jazz für Augenblicke eingelöst. Am Ende des Konzerts erhebt sich das Publikum jubelnd zum Applaus.
Trompetenhöllenritt
An der Spitze seines Trios Pulverize the Sound blies Peter Evans auf der Trompete zum Höllenritt. Von unten hämmert Schlagzeuger Max Jaffe gegen die Sitzfläche, der E-Bass Tim Dahls durchpflügt die Magengrube und Extremzirkularatmer Evans spuckt Tonkaskaden durchs Mundstück und attackiert das Mikrofon mit dem Schalltrichter. Der infernalische Lärm wirkt kathartisch, eine druckvolle Basswelle bleibt zurück, nachdem die Musiker von der Bühne abgetreten sind – eine machtvolle Geste der Verweigerung festgefahrener Konzertrituale.
Dean Blunt stellt diese schlussendlich zur Disposition. Das nach erfolgter Sicherheitsprüfung wieder in die Halle eingelassene Publikum erahnt die Schatten der Musiker auf der in Dunkelheit getauchten Bühne. Blunt spielt ein schmerzlich einsames Motiv und singt wenige Zeilen von kristallklarer Düsternis. Auf seine Worte „Free Jazz“ hin verfallen Bass, Schlagzeug, Tenorsaxofon und Cello in ekstatische Eruptionen.
Der Wechsel von Blunts Melodie mit diesem allseits bekannten Performanceritual enthüllt Produktions- und Wahrnehmungsmuster des Jazz in einer fast okkult anmutenden Zeremonie. Die hiermit produktiv ausagierte Dekonstruktion hinterlässt eine Melancholie, deren Schleier sich weiterhin über viele Konzerterlebnisse legen wird.
Denn welche Bedeutung messen wir der Darstellung, den Muskelspielen, Hierarchien und deren Fortschreibung in dieser Musik, bei Lichte besehen, wirklich zu? Die herausragende Eigenheit des Festivals ist, dass es mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Für seine Entdeckungen, Reibungsflächen und das gebotene Spektrum von Musikkulturen der Welt über eigens initiierte Projekte bis hin zu solchen mit offenem Ausgang, für die selbstverständliche Präsentation von Musikerinnen, Bandleiterinnen und Komponistinnen wird es von seinem Publikum wahrhaftig geliebt.
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