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■ Mögliche OrteIm Wurstkessel

„Die Dinge aus Glas“, heißt es an einer Stelle bei Walter Benjamin, „haben keine Aura.“ Das Glas sei der Feind des Geheimnisses und des Besitzes. Geht man, ein Jahr nach dem ersten großen Ansturm, durchs Kaufhaus La Fayette in der Friedrichstraße, stimmt man dem Autor des Passagenwerks unumwunden zu. Es war ein Besucher-, kein Kundenandrang. Der Blick in den durchsichtigen Trichter fasziniert zu sehr, als daß man sich von den großzügig ausgelegten Waren affizieren ließe. Das ist auch im Kellergeschoß nicht anders, wo französisches „savoir vivre“ in Form von exquisiten Eßwaren gepflegt werden soll. Man fühlt sich dauernd beobachtet.

Nach kurzer, überfallartiger Besichtigung des neuen Kaufhauses in Mitte haben die Westberliner längst wieder die Lebensmittelabteilung des KaDeWe okkupiert, das in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag begeht. Im Gedränge am Samstagnachmittag ist Orientierung am besten per Geruchssinn möglich. Ginge man mit verbundenen Augen durch die Abteilung, wüßte man doch immer, wo man sich gerade befindet. Die Geruchsgrenzen erscheinen als sorgsame Komposition eines Flaneurs. Beim langsamen Durchgang überschreitet man die Grenze zum frischen Brot in eben jenem Moment, wenn der Fleischgeruch allzu aufdringlich zu werden droht. Das Auge kommt dabei keineswegs zu kurz. Satte Filetstücke ohne Fett und Sehnen liegen wie gemalt in den Auslagen und gerupftes Geflügel hängt ofenbereit am Haken. Wie im orientalischen Basar sind die Waren eher kunstvoll drapiert, als daß sie zum käuflichen Erwerb bereit liegen.

In ideologiekritischen Tagen war die „Freßetage“ des KaDeWe, je nach Stimmlage der Urteilenden, Tummelplatz der unersättlichen Reichen oder Inbegriff einer kulinarischen Spießermeile. Aus dieser Unentschiedenheit erwächst noch immer der Reiz des Orts. An der Sushi-Bar warten Männer in feinen Zweireihern und Cheaney- Schuhen, daß ihre schönen Frauen endlich von Shisheido zurückkehren mögen. Man sieht echte und weniger echte Pelze auf hochhackigen Schuhen sowie Ray-Ban-Sonnenbrillen auf zarten Stupsnasen selbst im Winter. Das sind nicht zwingend Zeichen des Luxus, sondern eher Merkmale seiner beliebigen Verbreitung. An den einzelnen Theken trifft sich die Angestelltenwelt mit „Hallo und Tschüssi“ und begeht konsumierend ihren bürofreien Tag.

Ich beginne meinen Rundgang, von den Rolltreppen kommend, am Zeitungsstand vorbei, stets in der Fischabteilung. Ich empfehle bei Nachahmung, den Besuch nicht allzu hungrig anzutreten. Man wird sonst rasch zu einem der Krabbenbrötchen mampfenden Passanten, deren Anblick unappetitlich wirkt. Mitunter fallen Fischteilchen aus den Mundwinkeln.

Im „Fischkutter“ trinkt man unterdessen trockenen Weißwein zum Rotbarschfilet in kleinen Schlucken. Wer hier hockt, zelebriert Triebkontrolle als Ausdruck gehobener Verzehrpraxis, ohne recht satt zu werden. Das gepflegte Zerteilen von Fisch in der Öffentlichkeit ist noch immer die sicherste Wahl, „Distinktionsgewinne“ (Pierre Bourdieu) zu landen.

Auf soziale Sonderung in diesem Sinne müssen auch die rosigen Gesichter aus gewesen sein, die sich vor einem Tresen eingefunden haben, über dem ein Schild mit dem Namen „Paul Bocuse“ prangt. Weil die Gerichte hier etwas teurer sind, findet man meist einen freien Platz. Das mag ein Zugangskriterium für die kleine Männergruppe mit der Ausstrahlung westfälischer Fleischergesellen gewesen sein. Lange Schlangen bildeten sich indes am „Wurstkessel“, an dem ich unbedingt bayerische Weißwürste mit Specksalat empfehlen kann. Nach Befriedigung des kleinen Hungers geht der Einkauf für den heimischen Kühlschrank sehr viel nüchterner und nicht zuletzt preiswerter vonstatten. An der Salatbar genügen die kleinen Schälchen für die Mitnahme von Palm- und Artischockenherzen.

Die Idee vom Schlemmerparadies funktioniert allerdings nur als Durchgang.

Die stumme Begeisterung des Passanten über die vielfältigen Genüsse wird jäh gestoppt, wenn er im Kuppelrestaurant angelangt ist, das grenzenlose Aussicht verheißt, aber nicht einhält. Am Platz angekommen, erscheint alles abgewogen und rationiert. Endlich dem Gewirr entronnen, empfindet man hier kaum mehr als die Atmosphäre einer trostlosen Beamtenkantine. Harry Nutt

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