Modernes Lesen: Neue Bücher kurz besprochen
von Kolja Mensing
Eine gute Stripperin
Es gibt nur das eine Foto von Philippe Djian: die Augen leicht zugekniffen, das Haar zerzaust, der Bart drei Tage alt. Seit „Betty Blue“ 1986 auf Deutsch erschienen ist, wird es immer wieder hinten auf seine Bücher gedruckt. Djian ist inzwischen fünfzig, und das Foto, auf dem er etwas über dreißig sein muss, hängt vermutlich über seinem Schreibtisch. Djian zündet sich eine Zigarette an, schaut das Bild an, und dann fallen ihm Sätze ein wie: „Siebenundvierzig ist das Alter der Unsicherheit.“ Und dass das Leben nicht einfacher wird, wenn man älter wird. Vor allem im Bett: „Einerseits geilt man sich im Kopf immer noch auf, doch andererseits ...“
„Heißer Herbst“ ist Djians zehnter Roman. Man könnte jetzt sagen, dass er „vom Älterwerden erzählt“. Oder, noch schlimmer, „ein Alterswerk ist“. Oder aber sich einfach darüber freuen, dass wieder einmal das Dreitagebartfoto zu sehen ist, dass es wieder einmal um einen ausgebrannten Schriftsteller geht und dass es Djian wieder einmal gelungen ist, eine der „unendlichen und unglaublichen – sicher im Leben eines Mannes einzigartigen – Vögeleien“ unterzubringen.
Die Geschichte? Luc Paradis leidet an der Trennung von seiner Frau, schreibt nicht, leckt Wunden. Da taucht seine intrigante (Ex-)Schwiegermutter plötzlich bei ihm auf, und plötzlich tut alles noch einmal so richtig weh. Außerdem sieht sie für ihr Alter auch noch ganz schön gut aus ... Das ist echt ein Problem für Luc. Zu wenig? Keine gute Geschichte? Djian halt. „Weißt du, es reicht nicht, eine gute Figur zu haben, um eine gute Stripperin zu sein“, sagt Luc Paradis: „Nimm zum Beispiel einen Schriftsteller. Reicht es, dass er eine gute Geschichte hat? Warum, denkst du, sind diese Schriftsteller im Allgemeinen so schlecht? Weil man kein echtes Verlangen spürt. Sie machen den Eindruck, als würden sie an was anderes denken.“
Philippe Djian: „Heißer Herbst“. Aus dem Französischen von Ulrich Hartmann. Diogenes, Zürich 1999. 286 Seiten, 39,90 DM
Progressiver Alienismus
Du triffst sie in den Vorstandsetagen und in den Lehrerzimmern, sie waschen nebenan auf der Einfahrt ihr Auto. Früher trugen sie dunkle Anzüge, heute kaufen sie bei H & M ein: Aliens. „Aliens erklären dir, dass deine Mittagspause zu lang ist; dass du am Sonntagnachmittag noch ungenutzte Kapazitäten hast, etwas für die Gemeinschaft zu tun; dass Rauchen verbrecherisch ist, weil du damit die Volkswirtschaft schädigst.“
Aliens – das ist die gefährliche Elite der Dienstleistungsgesellschaft. In „Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Alltag“ erfährt man alles ganz genau. Warum Jürgen Habermas ein „prominentes Beispiel progressiver alienistischer Philosophie“ ist. Was man lernen kann, wenn man sich ein paar Folgen „Akte X“ ansieht. Und vor allem: wie man sich befreien kann. Es geht. Versprochen.
Christoph Speer: „Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter“. Siedler, München 1999. 319 Seiten, 18 DM
A Boy’s Life
Kenny ist siebzehn. Ein Mann, irgendwie, aber der Gedanke gefällt ihm nicht: „Diese ganze Seite seiner Persönlichkeit, die er nicht mochte und die er nicht geschaffen hatte. Er hatte sie von seinem Vater geerbt, von allen möglichen Leuten. Von Fred C. Dobbs. Von De Niro in Taxi Driver. Ein Mann zu sein fühlte sich manchmal wie eine Krankheit an.“
Wir müssen uns den amerikanischen Mann als Sohn vorstellen. Er leidet schon lange an sich, und seit, sagen wir: „Portnoys Beschwerden“ kann man sehr genau beobachten, wie die Väter immer schwächer werden und die Mütter immer grausamer. Im Gegensatz zu Philip Roth weigern sich die amerikanischen Schriftsteller heute, das zynisch zu sehen. Sie erzählen tieftraurig von der männlichen Depression: Tobias Wolff, Richard Ford, Rick Moody. Und Kevin Canty. Bisher ist von ihm auf Deutsch nur der Kurzgeschichtenband „Mondschein und Aspirin“ erschien, jetzt gibt es einen Roman: „Into the Great Wide Open“.
Kennys hängt in einer grauen Stadt an der Ostküste ab, der Vater trinkt, die Mutter ist in der Psychiatrie. Dann lernt Kenny June kennen. Liebe tut weh: jedes Gespräch ein Missverständnis, jede Berührung ein Schmerz. Sex macht Spaß, okay, aber irgendwie findet Kenny in den zerwühlten Laken doch nur wieder „ein schmutziges Nest voller Gefühle“. Kenny hat nichts, an dem er sich festgehalten kann, außer June. Also träumt er sich eine dieser amerikanischen Biografien zusammen: „Tief gefallen, bis ganz unten, und dann wieder aufgestiegen, stärker denn je ...“ Mit einem „american girl“, wie in dem Song von Tom Petty. Ein Traum. Ein Alptraum.
Cantys Roman ist toll geschrieben. Er liest sich mal eben so weg. Es darf einem nur nicht zu schlecht gehen, wenn man ihn aufschlägt: „Into the Great Wide Open“ ist ein fuchtbar hoffnungsloses Buch. Ganz am Ende setzt Kenny sich in ein Auto und fährt nach Westen, zu June, die ihn eigentlich längst verlassen hat. In Montana er einen Autoaufkleber: „Wenn du etwas liebst, gib ihm die Freiheit. Wenn es nicht zurückkommt, spür es auf und erschieß es.“ Keine Angst. Kenny schießt nicht. Aber er lernt ziemlich früh, wie es ist, wenn man immer wieder die Schrotflinte auf das eigene Leben anlegt.
Kevin Canty: „Into the Great Wide Open“. Aus dem Amerikanischen von Dirk von Gunsteren. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000. 318 Seiten, 42 DM
Texas Highway Killer
In Don DeLillos Roman „Unterwelt“ gibt es den Texas Highway Killer: einen Autofahrer, der auf andere Autofahrer schießt. Schöner Zufall, dass am Ende des 19. Jahrhunderts in einem der ersten Auto-Texte ebenfalls eine Schusswaffe erwähnt wird: „Sehr geehrter Herr Polizeipräsident!“, beschwerte sich 1896 ein Leserbriefschreiber in der Pariser Tageszeitung Le Journal darüber, dass es wegen der Autos keine Sicherheit mehr auf den Straßen gebe: „Und da Ihre Polizisten melden, dass sie wehrlos seien, zeige ich Ihnen hiermit an, dass ich von morgen ab mit einem Revolver in der Tasche umhergehen und auf den ersten tollen Hund, der auf einem Automobil oder einem Benzin-Dreirad sitzt und die Flucht ergreift, nachdem er drauf und dran war, mich und die meinen zu überfahren, schießen werde.“
Die Autoliteratur ist ein Feld, auf dem die Vergleichende Literaturwissenschaft bisher nichts geleistet hat. Es liegt vollkommen im Dunkeln, warum es viele anständige amerikanische Romane gibt, in denen das Autofahren eine wichtige Rolle spielt, die deutschsprachige Literatur aber bis heute keinen einzigen ordentlichen Autoroman hervorgebracht hat. Jetzt hat der Fischer Verlag erst einmal eine Anthologie vorlegt. In „Baby, won't you drive my car? Dichter am Steuer“ finden sich eine Menge Texte, in denen es immer nur um das eine geht – von John Steinbeck über Jack Kerouac bis zu Peter Handke, Max Frisch und Italo Calvino.
Die beiden Herausgeber Rüdiger Kremer und Wolfgang Rumpf haben dazu einen unlustigen Einführungsessay geschrieben. Er erklärt nicht die Beliebkeit der Textauswahl, und anständige Thesen über die unterschiedliche literarische Verarbeitung des Autos hat er auch nicht anzubieten. Warum beschreibt zum Beispiel Eugen Diesel (der Sohn des Dieselmotor-Erfinders) eine Autofahrt wie einen gemütlichen Nachtmittag in einem Kleinfamilien-Wohnzimmer, während in den amerikanischen Stories dagegen von Anfang an die Kleinfamilien-Idylle besonders gern auf langen Autofahren in die Luft gejagt wird? Früher an der Uni, wenn keinem mehr etwas einfiel, hieß es immer: „Da stecken noch jede Menge Dissertationen drin.“
Rüdiger Kremer, Wolfgang Rumpf (Hg.): „Baby, won't you drive my car? Dichter am Steuer“, Fischer, Frankfurt 1999. 298 Seiten, 18,90 DM
Es geht ihm gut
Früher schrieb Paul Auster verzweifelte Bücher. Die „New-York-Trilogie“ erzählte von der Suche nach einem Ich, das kein Ich mehr ist, „Die Erfindung der Einsamkeit“ von der Erfindung der Einsamkeit, „Leviathan“ von einer kaputten Gesellschaft, die nicht kaputtzukriegen ist, und „Im Land der letzten Dinge“ zerfiel die Einheit von Sprache und Welt so gründlich, dass man danach nie wieder ein Buch lesen wollte. Man musste sich Paul Auster als unglücklichen Menschen vorstellen.
Der neue Auster heißt „Timbuktu“. Der Roman ist aus der Sicht eines Hundes erzählt. Der Hund, sein Name ist Mr. Bones, kann reden und versteht die Menschen, Sprache und Welt sind also wieder beieinander. Auch das Subjekt ist ganz bei sich und was zum Liebhaben. Und als Mr. Bones am Ende stirbt, kommt er in den Himmel. Dieser Hund verkörpert all das, was es in Paul Austers Romanen vorher nicht gab.
Creative Writing als Therapie: Das ist so eine amerikanische Idee, an die man eigentlich nie so recht glauben wollte. Jetzt schon. Paul Auster hat sich freigeschrieben und seine Neurose anscheinend hinter sich gelassen. „Timbuktu“ ist zwar ein ganz banaler Roman, aber Paul Auster geht es gut. Das ist doch gut.
Paul Auster: „Timbuktu“. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999. 190 Seiten, 39 DM
Lesen Sie dieses Buch!
Jetzt noch schnell ein Buch retten. Es heißt „Hin und weg“, ist schon fast zwei Jahre alt und beginnt an einem Weihnachtsmorgen. Morvern Callar wacht auf und findet ihren Freund in der Küche: „Nackt und tot lag er da, mit dem Gesicht auf dem Küchenboden, rundherum alles voll Blut.“ Morvern weint. Dann zündet sie sich eine Zigarette an, rasiert sich die Beine und geht zur Arbeit. Und dann ... – es geht immer so weiter. Es gibt in Alan Warners Roman „Hin und weg“ keinen einzigen Absatz, in dem man sich etwas länger aufhalten könnte. Morvern rennt.
Morvern Callar ist 21, lebt in einer Hafenstadt in den schottischen Highlands und arbeitet in einem Supermarkt. Man weiß nicht viel über ihr Leben, nur dass sie mit ihrem Freund zusammengelebt hat und ihn geliebt hat. Als er stirbt, geht Morvern raven. Sie fährt nach Spanien, lässt sich von einer Strand-Disco zur nächsten treiben. Man weiß nicht genau, warum. „Hin und weg“ ist kein Roman, der Zeit für Reflexionen hat. Und eigentlich ist „Hin und weg“ sowieso kein Roman, sondern eine Liturgie. Jeder kleine Schritt in Morvern Callars Alltag wird genau verzeichnet: das Lackieren von Fußnägeln, das Anzünden einer Zigarette, das Aufnehmen einer Kassette. Morvern wird zur Priesterin, alles, was sie tut, zum Ritual, dann zum Text. Aus junger Gegenwart wird junge Literatur.
Und jung, ey, da stehn wir doch drauf. Trotzdem liest in Deutschland fast niemand Alan Warner. Vielleicht liegt es daran: „Hin und weg“ hat einen doofen Titel, ist schlecht übersetzt und dann auch noch bei einem Verlag erschienen, mit dem Literaturredaktionen nichts anfangen können. Egal. Lesen Sie es einfach trotzdem.
Alan Warner: „Hin und weg“. Aus dem Englischen von Sabine Lohmann. Goldmann, München 1998. 220 Seiten, 17 DM
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