Mittelengland nach dem Brexit: Im Land der Schuldzuweisungen
In Mittelenglands armen Labour-Hochburgen wurde massiv für den Brexit gestimmt. Jetzt pflegt jeder hier seine eigene Verschwörungstheorie.
Der 36-jährige Wayne Thomas verkauft seit zwanzig Jahren Waren auf dem Markt von Dudley. Aktuell gibt es bei ihm E-Zigaretten. Sie hätten zu viele Einwanderer, meint Wayne. Rumänen kämen mit vier oder fünf, ja sechs Kindern und nähmen den Einheimischen soziale Leistungen, Wohnungen, Krankenversorgung und Schulplätze weg. „Unser Land ist unser Land!“, lautet sein Motto, seine Wahl war: Brexit. „Das Referendum war das erste Mal, dass ich je in meinem Leben wählen ging.“
Auch der 56-jährige Doug hinter dem Tresen des Charity-Ladens des St.-Giles-Hospizes klagt über „diese Ausländer“. Der schlanke Mann mit Ziegenbärtchen jongliert vier Jobs, vor der Ladenschicht hat er frühmorgens drei Stunden als Putzkraft gearbeitet. Was er insgesamt verdiene, reiche kaum zum Leben. „Die Osteuropäer, ich meine die Rumänen, ich habe die Schnauze voll von denen, sie klauen immer wieder.“
An der nächsten Ecke sonnen sich auf einer Parkbank zwei dieser Osteuropäer. Arrik Volli, 37, und sein Kumpel stammen aus Polen. Arrik trägt ein verwaschenes braunes T-Shirt, seine Alkoholfahne ist um 11 Uhr vormittags deutlich. Vor drei Monaten kam er aus Lublin, denn „ich hatte Probleme mit meinem Vater“. Für 25 Pfund (30 Euro) am Tag passt er nun in Dudley auf geparkte Autos auf. „Das einzige Schlimme in Dudley“, findet Arrik, „sind diese Zigeuner aus Polen. Das sind einfach andere Leute als wir! Es ist wirklich schrecklich, es sind zu viele!“
Sorge um steigende Preise
Jagjit Sandhar, 36, hat nichts gegen Osteuropäer. Sein Großvater baute hier einst einen indischen Supermarkt auf, mittlerweile sind sie in dritter Generation tätig. Im glänzend sauberen Laden riecht es nach Kardamom und Koriander. „Wenn man Qualität bietet und seine Kunden gut behandelt, bleibt alles in Ordnung“, ruft der 66-jährige Onkel Balthawar von der Kasse, ein gläubiger Sikh mit Vollbart und Turban.
Jagjit, ohne Turban und Bart, sorgt sich um steigende Einfuhrpreise seit dem Brexit-Referendum und hofft, dass Waren aus Kanada und Indien billiger werden. Jagjit fühlt sich Labour verbunden. Doch von Labour-Chef Jeremy Corbyn hält er nicht viel.
Wayne Thomas, Brexit-Wähler
Zwei muslimische Gemeindevertreter, sie wollen „aus Sicherheitsgründen“ nicht namentlich genannt werden, stehen hinter Corbyn. Sein Einsatz für die Armen, für Palästina, Kaschmir, Irak und gegen die Bombardierung Syriens sei ihm positiv anzurechnen. „Manche mögen ihn nicht, weil er die Wahrheit sagt, und Wahrheit tut nun mal weh“, findet einer.
Theresa May hingegen, die neue konservative Premierministerin, müsse ihre Glaubwürdigkeit erst mal beweisen. Und der Brexit? Den finden sie gut und vergleichen die Religionsfreiheit in Großbritannien mit Frankreichs Verboten von Schleiern und ritueller Schlachtung. „Außerdem könnte der Brexit die Zusammenführung von Familienangehörigen aus Pakistan erleichtern.“
Moscheestreit als Wahlkampfhilfe
Die Fenster des Gemeindezentrums sind mit Metallgittern gesichert. „Sie zerschmetterten unsere Fenster und urinierten an unsere Türen“, erinnert sich einer der Muslime an die Großaufmärsche von Ultrarechten in Dudley vergangenes Jahr. Die Rechtsextremisten kippten den geplanten Bau einer großen Hauptmoschee.
Bei den Kommunalwahlen 2015 errang die rechtspopulistische Ukip den Labour-Wahlkreis Wordsley im Süden von Dudley. Tankstellenbesitzer Simon Pritchard in Wordsley zögert, bevor er bestätigt, dass Ukip hier wegen des Moscheestreits gewann. Der 59-Jährige stimmte nicht für den Brexit, obwohl Ukip-Parteichef Nigel Farage persönlich herkam und demonstrativ vor laufender Kamera Schweinefleisch verzehrte.
Im pakistanischen Restaurant am Bahnhof herrscht am Abend Hochbetrieb. Ein Mitglied der Inhaberfamilie, etwa 30 Jahre alt, meint lapidar: „Ja, die Leute schimpfen über unsere Moschee und dann kommen sie hierher zum Essen.“ Dann fährt er fort: „Ich sage Ihnen, weshalb es all die Probleme gibt: Es ist wegen der Zionisten. Alles wird von den Israelis gesteuert.“ Immer ist in Dudley offenbar jemand anderes schuld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel