piwik no script img

Mittel gegen neue Armut verlangt

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV) fordert Reform der Sozialhilfe für eine Grundsicherung/ Armut in Deutschland wächst weiter/ Gang zum Sozialamt soll wegfallen  ■ Aus Bonn Andreas Zumach

Angesichts der dramatisch zunehmenden Armut sowie der wachsenden Zahl von SozialhilfeempfängerInnen in Deutschland hat der „Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband“ (DPWV) gestern in Bonn einen Diskussionsentwurf für eine „bedarfsorientierte Grundsicherung“ vorgelegt.

„Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land“ heißt dieser erste bundesweite Armutsbericht. Bereits vor zweieinhalb Jahren hat der DPWV festgestellt, daß in der reichen Altbundesrepublik „rund sechs Millionen Menschen unter unwürdigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben“. Damals bezogen in Westdeutschland rund 3,6 Millionen Menschen Sozialhilfe. Anfang 1992 waren es bereits über vier Millionen, wie der DPWV-Vorsitzende Professor Dieter Sengling gestern in Bonn bekanntgab. Es sei jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, weil viele Menschen sich schämten, ihren Anspruch auf Sozialhilfe wahrzunehmen. Sengling zitierte Expertenangaben, wonach etwa zehn Prozent der Westdeutschen Ansprüche an das Sozialamt geltend machen könnten. Gleichzeitig warnte er jedoch davor, sich von den „noch moderat anmutenden“ offiziellen Zahlen der Sozialhilfeempfänger in den fünf neuen Bundesländern über die dort herrschende soziale Unterversorgung täuschen zu lassen. Etliche BürgerInnen der ehemaligen DDR seien über ihre Rechtsansprüche nach wie vor nicht informiert. Viele der Informierten scheuten noch davor zurück, „sich nun plötzlich durch öffentliche Kassen alimentieren zu lassen“. Derzeit bewahrten die noch bestehenden Sozialzuschläge bei den Lohnersatzleistungen und Renten viele Ostdeutsche vor der Sozialhilfe. Diese Sozialzuschläge sollen demnächst wegfallen. Angesichts der großen Arbeitslosigkeit werde die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den neuen Bundesländern in absehbarer Zeit „rapide zunehmen“.

Der DPWV fordert eine „grundlegende Reform“ der staatlichen Einrichtungen für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Das vorgelegte Modell einer Grundsicherung soll — wie auch bislang die Sozialhilfe — bedarfsorientiert sein, weil sie das bestehende, gegliederte Sozialsystem der BRD nicht gefährden, sondern ergänzen solle.

Die Grundsicherungssätze müßten — je nach Haushaltsstruktur — um zehn bis dreißig Prozent über den derzeitigen Sozialhilfesätzen liegen. Außerdem dürfe der Bedarf nicht mehr auf der Grundlage eines „völlig überholten“ Lebensstandards erhoben werden. Darüber hinaus fordert der DPWV den Abbau „überzogener“ Kontrollen. Außerdem soll der oft als demütigend empfundene Gang zum Sozialamt wegfallen. Arbeitslose sollen ihre Grundsicherung künftig von den Arbeitsämtern, ältere und erwerbsunfähige Menschen von den Rentenversicherungsträgern erhalten. Mit der Einführung einer Grundsicherung, so der DPWV, könnten die Sozialämter zu kompetenten Fachbehörden ausgebaut werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen