Mittel gegen Wohnungskrise in Berlin : Yeah, Vergesellschaftung!
Der Berliner Gesetzentwurf zur Vergesellschaftung macht - unbeabsichtigt – die Möglichkeit eines Zusammenlebens mit bezahlbaren Mieten und stabiler Daseinsfürsorge sichtbar. Das Beste: Man muss dafür nicht den Kapitalismus abschaffen. Eine Kolumne.

„Das Vergesellschaftungsrahmengesetz (VergRG) schafft den rechtlichen Rahmen für Zwecke, Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln sowie deren Überführung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft im Land Berlin“. - „Ziel der Vergesellschaftung ist die unmittelbare Deckung eines öffentlichen Bedarfs der Daseinsfürsorge ohne Gewinnabsicht.“
– aus Art 1 und 2, Entwurf des VergRG der Berliner Senatskoalition aus CDU und SPD.
taz FUTURZWEI | Die Grundversorgung aller Bürger soll in Berlin in Zukunft direkt von öffentlichen Regiebetrieben der Stadt als Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge organisiert und betrieben werden. Das beinhaltet Wohnen, die Versorgung mit Energie, Wasser und Wärme, die Entsorgung von Abwasser und Abfall, dazu ÖPNV, Post, Telekommunikation und alle digitalen Kommunikationsdienstleistungen, sowie die Pflege und Gesundheitsversorgung.
Dieser Gesetzentwurf steht auf sicherem verfassungsrechtlichen Grund, dem Sozialisierungsartikel 15 GG. Diesen Artikel haben die Sozialdemokraten im August 1948 in Herrenchiemsee mit viel Einsatz ins Grundgesetz eingebracht. Sie wollten sicherstellen, dass die Wirtschaft der Republik nicht nur auf Profitinteressen ausgerichtet wird, sondern mit Gemeinwirtschaft zugleich auf die sozialen Interessen aller Bürger.
Eine sozialdemokratische Heldentat, die leider keine Rolle beim Wiederaufbau gespielt hat. Vergesellschaftung nach Art 15.GG hat es seit 1948 nicht ein einziges Mal gegeben.
Fast 60 Prozent stimmten für Vergesellschaftung
Die Berliner Sozialdemokraten besinnen sich nicht von ungefähr auf ihre Wurzeln. Sie wurden durch das Volksbegehren vom 26. September 2021 dazu gedrängt, das für die Vergesellschaftung von Wohnungseigentümern votiert, die über mehr als 3.000 Wohnungen verfügen. 59,1 Prozent der abstimmenden Berliner haben für die Vergesellschaftung gestimmt.
CDU und SPD haben, um das Ansinnen der Bürger abzuwehren, eine juristische Expertenkommission eingesetzt, die nachweisen sollte, dass eine solche Vergesellschaftung mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. Pustekuchen. Die Kommission hat einstimmig festgestellt, dass eine Vergesellschaftung großer Wohnungsbestände mit Art. 15 GG vereinbar ist, wenn der Berliner Gesetzgeber per Gesetz klare Gemeinschaftsziele verfolgt.
Der Gesetzentwurf soll nun über das Wohnen hinaus den Weg in der Stadt für eine Renaissance der Gemeinwirtschaft in der öffentlichen Daseinsfürsorge freimachen. Er soll im Dezember ins Abgeordnetenhaus eingebracht und dort im Mai 2026 beschlossen werden. Die CDU schäumt pflichtgemäß mit den erwarteten Rhetorikstandards: „Neue Regulierungsorgie“, „Die SPD völlig auf Abwegen“, „Wenn es etwas gibt, was Berlin nicht braucht, dann sind das Enteignung und Klassenkampf“, „Wohlfühlsozialismus wird es mit uns nicht geben“ undsoweiter.
Die SPD hat dagegen mit dem Gesetzentwurf einen potentiellen Wahlkampfhit, der sie vorerst nichts als leere Versprechungen kostet.

Städtische Wohnungsbauer als Mietentreiber
Es ist sehr, sehr schade, dass mit dieser Gestaltungschance des Stadtlebens durch Vergesellschaftung so wenig ernsthaft umgegangen wird.
Wohnen ist in Berlin zum Geschäftsmodell von profitgierigen Investoren aus der ganzen Welt geworden, an der sich sogar die städtischen Wohnungsbaugesellschaften beteiligen. Die GEWOBAG, die größte von ihnen, bietet im Neubau Wohnungen zum Preis ab 16.50 Euro pro Quadratmeter kalt an, ihre Vorstände sind mit Gehältern von über 203.000 Euro Gehalt ausgestattet. Wo die fehlenden 40.000 bezahlbaren Wohnung herkommen sollen, darauf geben sie keine Antworten.
Der SPD-Gesetzentwurf könnte derweil eine Antwort beinhalten. Alle städtischen Wohnungsbaugesellschaften könnten in einem Regiebetrieb des Landes zusammengeführt werden, ihr Wohnungsbestand um die vergesellschafteten Großbestände an Wohnungen ergänzt, eine Mietobergrenze für alle Mietwohnungen gesetzlich festgelegt und systematischer Neubau von Wohnungen auf den Weg gebracht werden, die nur zwischen 6 und 8 Euro pro Quadratmeter Mieter kosten dürfen.
■ Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
Auch Energie und Daten vergesellschaften
Mit einem solchen Programm könnte die SPD die Bereitschaft signalisieren, ihren Fehler zu korrigieren, den sie vor Jahren, neoliberal verwirrt, mit der Privatisierung von tausenden Berliner Wohnungen begangen hat.
Die Umstellung der Energie- und Wärmeversorgung der Stadt auf der Basis regenerativer Energien zu zumutbaren Preisen ist mit den großen privaten Energie- und Wärmeversorgern nicht zu erreichen. Energie und Wärme gehören wie Wasser zu den Grundmedien der Daseinsfürsorge. Sie sollten nicht zur privatwirtschaftlichen Gewinnmaximierung kostensteigernd für die Bürger benutzt werden dürfen. Eine gemeinwirtschaftliche Organisation dieses Sektors erfordert zwar hohe öffentliche Investitionen, an denen über den Preis die Endverbraucher beteiligt werden müssten: Aber jeder Gebrauch dieser Medien der öffentlichen Daseinsvorsorge für spekulative Interessen wäre dauerhaft ausgeschlossen.
Die Neuen Medien, Internet, Daten, sind bis heute völlig unreguliert einigen Monopolen überlassen. Die private Verfügung über die Daten muss nicht nur reguliert, sie kann in die Beherrschung und Kontrolle der öffentlichen Hand überführt werden, was mit einer guten Begründung und dem Bezug auf Art. 15 GG möglich wäre.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?
Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?
Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.
Zweifel an der Sozialdemokratie sind angebracht
Ob die Sozialdemokraten mit ihrem Gesetzentwurf einen solchen grundsätzlichen Politikwechsel einleiten wollen, ist zu bezweifeln. Es ist aber nicht unverstellbar.
Der Gesetzentwurf hat – unbeabsichtigt – neue Perspektiven der Organisation gesellschaftlichen Zusammenlebens sichtbar gemacht. Mittels eines Ausbaus der Gemeinwirtschaft könnte auch Rot-Rot-Grün als Alternative zu Schwarz-Grün oder CDU/AfD wieder eine sozialpolitisch-zukunftsorientierte Option werden. Eine Koalition, die über allein an Verteilungsgerechtigkeit orientierter Sozialpolitik hinaus soziale Sicherheit in stabilen Strukturen der Daseinsfürsorge aufbauen würde.
Ob die Berliner SPD diese strategische Dimension ihres Gesetzentwurfes überhaupt gesehen hat, ob sie sie als programmatische Aussage ernst nimmt, darf allerdings bezweifelt werden. Aber immerhin zeigt der Gesetzentwurf, was alles an Gemeinwirtschaft möglich wäre. Man muss dazu nicht mal den Kapitalismus abschaffen.
🐾 Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
🐾 Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ gibt es jetzt im taz Shop.