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Mitschuld am Verdrängen

■ betr.: „Wiesenthal: Grubbe soll ge tötet haben“, taz vom 2. 10. 95

Es kann sein, daß Claus Volkmann alias Peter Grubbe sich selbst 50 Jahre lang mit seiner Vergangenheit betrogen hat, seine journalistische Umwelt aber sicher nicht! Wie Juristen, Ärzte, Politiker und andere Berufsgruppen nach 1945, haben auch Journalisten ihre Kollegen kaum nach ihrem Verhalten während der NS- Diktatur befragt oder im Zweifelsfall ihnen nachrecherchiert.

Wie sonst ist es möglich, daß 1963 ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren aufgenommen wird und kein verantwortlicher Chefredakteur oder Ressortleiter bei Welt, Stern, Zeit und Rundfunkanstalten davon Notiz nimmt? Keine Zeitungen gelesen, nichts gewußt über „Peter Grubbe“, der stets unter seinem richtigen Namen Claus Volkmann gemeldet war? Auch nicht beim Abschluß von Verträgen und bei der Überweisung von Honoraren? Merkwürdig!

War es nicht opportun für die Zeitungs- und Rundfunkverantwortlichen, Pseudonyme zu hinterfragen, wo man doch sonst jeden Spitzbuben oder jedes Filmsternchen damals ins Licht der Öffentlichkeit zog? Wo war der „Investigative Journalismus“, als der Schriftsteller Werner Steinberg 1968 die Stern-Redaktion auf die wahre Identität aufmerksam machte?

Diese „Enthüllungen“, nach 50 Jahren (!), hinterlassen eine bittere Erkenntnis über einen Berufsstand, dem ich selbst auch angehöre. Wir Journalisten sollten heute nicht nur „Grubbe“ anklagen, sondern auch uns selbst, weil auch wir eine Mitschuld am Verdrängen tragen. Das Gewissen darf nicht zu einer Generationenfrage werden. [siehe auch taz (Hintergrund) vom 25. 10. 95, „Die Karrieren der Wiederverwendbaren“, „Ich war ein kleiner, fanatischer Nazi“ (Otto Köhler). d. Red.] Jochen Maass, Köln

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