Mitmachen oder verweigern: "Er war am Boden zerstört"
Detlev Hosenfeld widmet sich dem Nachlass seines Vaters, der 1944 den Pianisten Szpilman rettete und trotzdem als Kriegsverbrecher verurteilt wurde.
taz: Herr Hosenfeld, Sie haben Ihren Vater zuletzt gesehen, als Sie 16 waren. Haben Sie Ihn richtig gekannt?
Detlev Hosenfeld: Ich glaube schon. Er war ja Lehrer in unserem Dorf und hat mich zwei Jahre lang unterrichtet.
Wie war Ihr Familienleben?
Wilm Hosenfeld
geboren 1895 bei Fulda. Lehrer-Ausbildung
1914-1917 Soldat im Ersten Weltkrieg
Ab 1918 Lehrtätigkeit
1933-1935 Beitritt zu SA, NS-Lehrerbund und NSDAP
1936 Entzug der Lehrbefugnis wegen kritischer Äußerungen
1939 Chef des polnischen Kriegsgefangenenlagers Pawianice
1940 Besatzungsoffizier in Warschau. Chef der Wehrmachts-Sportschule und -Berufsförderungsschule
1944 Vernehmungsoffizier während des Warschauer Aufstands
1945 russische Kriegsgefangenenschaft
1952 Tod in Stalingrad
2003 Edition des Bandes "Ich versuche jeden zu retten" mit Brief- und Tagebuch-Aufzeichnungen Wilm Hosenfelds
Ab 2005 Verleihung des Hosenfeld/Szpilman-Gedenkpreises an der Uni Lüneburg
2008 Ernennung zum "Gerechten unter den Völkern" in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem
1998 Edition des Buchs "Der Pianist" von Wladyslaw Szpilman
Bis Kriegsbeginn war das sehr unbeschwert. Wir fünf Geschwister haben uns sehr wohl gefühlt in dem kleinen Dorf. Wir hatten viel Freiheit. Mein Vater gehörte ja schon 1920 zu den Pionieren der Reformpädagogik. Er strafte nicht mit dem Stock und erteilte wenig Strafarbeiten.
War er religiös?
Ja, aber etwas anders als seine streng katholischen Eltern. Er schrieb 1919: ’Meine Eltern meinen, sie müssten alles für Gott im Gesetz der Kirche tun, um das Himmelreich zu gewinnen. Mir ist das Leben in anderer Form und das Diesseits eine Vorstufe, und wenn ich hier richtig gelebt habe, fällt mir jenes von selbst zu, aber nicht als Lohn.‘
Aber seine evangelische Frau musste konvertieren.
Die Begründung war: Der Vater muss katholischen Religionsunterricht geben. Aber meine Mutter gab ihre Prägungen durch ihr Elternhaus nicht auf.
Welche zum Beispiel?
Ihren Pazifismus. Denn Annemarie Krummacher, Tochter des Worpsweder Malers Karl Krummacher, war durch die Freideutsche Jugend ihrer Wandervogelorganisation eher linksorientiert. Sie war sehr liberal aufgewachsen.
Wie stand Ihre Mutter dazu, dass Ihr Vater Mitglied der SA wurde?
Sie war skeptisch und hat meinen Vater immer darauf hingewiesen, wie ekelhaft die Nazis waren.
Hat Ihr Vater nicht erkannt, dass Hitler Krieg wollte?
Wohl nicht. Das war eine Schwäche von ihm: Mein Vater war gutgläubig und optimistisch. Er ist in die NSDAP eingetreten, um seine Familie abzusichern. Denn nachdem er die Theorien des Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg öffentlich abgewertet hatte, hatte man ihm die Lehrbefugnis für den Fortbildungsunterricht entzogen.
Trotzdem ist Ihr Vater 1939 begeistert in den Krieg gezogen.
Begeistert war er nicht. Er empfand aber eine gewisse Nostalgie wegen des verlorenen Ersten Weltkriegs und glaubte, er müsse das Vaterland verteidigen. Er dachte auch, der Krieg wäre in ein paar Wochen vorbei. Aber das änderte sich bald.
Woran machen Sie das fest?
An einem Brief, den er im November 1939 unter dem Eindruck einer Hitler-Rede schrieb: ’Ich entnehme ihr, dass der Führer den Krieg will. Eine Verhaftungswelle geht über das Land. Aufgrund von Angaben hiesiger deutscher Einwohner werden hunderte Polen gegriffen und verschleppt. Wie man sie behandelt, kann man sich denken. Mag darin auch eine gewisse Berechtigung liegen, aber was in den letzten friedlichen Wochen Gutes getan ist, wird mit einem Schlag zerstört.‘
Warum sagt er: „Möge es auch seine Berechtigung haben“?
Das ist in der Tat ein merkwürdiger Zwischenton. Ich kann mir diesen Vergeltungsgedanken nur mit der damals kursierenden Propaganda von den Gräueltaten der Polen erklären. Einige davon – den Bromberger Blutsonntag – gab es. Andere wurden von den Nazis inszeniert.
Ihr Vater hat Hitlers Angriffskrieg als „Naturkatastrophe“ bezeichnet.
Das habe ich noch nie verstanden. Vermutlich war es eine damals weit verbreitete Haltung, dass man gegen den Krieg nichts tun konnte. Mein Vater hat die alleinige Verantwortlichkeit der Deutschen nicht so klar gesehen wie wir heute. In Polen hat sich seine Haltung dann gewandelt. Im November 1939 erlebte er die Verhaftung des Polen Joachim Prut durch die SS mit. Er hatte sich in Pabianice, wo er das Kriegsgefangenenlager leitete, mit der Familie angefreundet und setzte sich dann für Pruts Freilassung ein.
Und für die von Władysław Szpilman, der darüber später das Buch „Der Pianist“ schrieb.
Szpilman war einer der letzten Menschen, den mein Vater 1944 nach dem Warschauer Aufstand retten konnte. Von weiteren drei Juden und einer jüdischen Familie wissen wir die Namen. Die meisten Menschen – 20 bis 30 Personen – rettete er während des Warschauer Aufstandes im August und September 1944. Später hat er gesagt: ’Ich habe, soweit es in meiner Macht stand, jedem Polen geholfen, mit dem ich in Berührung kam.‘
Außerdem hat er Menschen unter Tarnnamen beschäftigt.
Das war an der Wehrmachts-Berufsförderungsschule, die die Soldaten auf das zivile Leben nach dem Krieg vorbereiten sollte. Die hat mein Vater in Warschau aufgebaut und geleitet. Dort hat er Juden und Polen unter falschem Namen angestellt.
Hatte Ihr Vater Mitwisser?
Er muss Vorgesetzte und Untergebene gehabt haben, die ihn nicht denunziert haben. Denn irgendwer muss die gefälschten Ausweise geschrieben und die Leute, die quasi aus dem Nichts kamen, gesehen haben.
Wie lange funktionierte das?
Die Wehrmachtskurse liefen bis Frühjahr 1944. Im August 1944 begann der Warschauer Aufstand. Hier musste mein Vater den eigentlich zuständigen Offizier vertreten und Aufständische verhören. 1945 kam mein Vater dann in sowjetische Kriegsgefangenschaft – zuerst in Polen, dann bei Minsk. Dort wurde er 1950 als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Trotz der Rettungsaktionen?
Die Russen haben ihm nicht geglaubt. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass mein Vater in Warschau mitten im Krieg eine Sportschule leitete und Berufsförderungskurse gab. Ausschlaggebend war aber, dass er der Abteilung angehört hatte, die für Truppenbetreuung und Spionageabwehr zuständig war.
Gab es Versuche, ihn zu retten?
Mehrfach. Schon 1947 reiste meine Mutter gemeinsam mit einem Kommunisten, den mein Vater gerettet hatte, nach Ostberlin – ohne Erfolg. 1950 bekam meine Mutter dann Besuch von Leon Warm, einem Juden, der im Sportstadion gearbeitet hatte. Er bat Władysław Szpilman in einem Brief um Hilfe. Szpilman sprach daraufhin in Warschau mit dem Chef der polnischen NKWD – des Volkskommissariats –, erreichte aber nichts.
Wie lange blieb Ihr Vater in Gefangenschaft?
Im August 1952 ist er mit 57 Jahren nach mehreren Schlaganfällen in Wolgograd gestorben.
Wie klingen die letzten Briefe?
Er war nach der Verurteilung am Boden zerstört. Außerdem muss er gefoltert worden sein. Er hat so etwas angedeutet.
Wo liegt er begraben?
Mein älterer Bruder, der 1989 nach Wolgograd reiste, konnte noch das Areal des früheren Gefangenenfriedhofs sehen. Über dem einstigen Friedhof wurden später Schrebergärten angelegt. Inzwischen ist das Areal bebaut. Der Name meines Vaters steht aber auf einem Granitwürfel auf dem Friedhof der deutschen Stalingrad-Toten in Rossoschka.
Sind Sie dort gewesen?
Mein Bruder, der kürzlich verstarb, wollte immer, dass wir Geschwister dorthin reisen. Ich halte es aber eher mit dem, was ich bei der ersten Verleihung des Hosenfeld-Szpilman Preises 2005 in Lüneburg gesagt habe: ’Wir Kinder von Wilm Hosenfeld können das Grab unseres Vaters nicht besuchen, weil es nicht mehr existiert. Sein Andenken lebt jedoch am sinnvollsten weiter, wenn seine Visionen von Menschlichkeit und Versöhnung weitergetragen werden.‘
Haben Sie einen anderen Erinnerungsort?
Auf unserem Familiengrab in Hessen ist sein Name aufgeführt. Dorthin gehe ich immer, wenn ich meine Geschwister besuche.
Hadern Sie noch mit der Verurteilung Ihres Vaters?
Verstehen kann ich es immer noch nicht. Ich kann mir nur immer wieder sagen: Dieser Prozess ist ganz schematisch abgelaufen. Es hat niemanden interessiert, ob er Leute gerettet hat. Die Richter haben nur gesehen: Parteimitgliedschaft, SA-Mitgliedschaft, Abteilung Spionageabwehr. Das hat genügt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken