■ Mit westdeutschen Mustern ist Sachsen-Anhalt nicht zu verstehen: Der Antiwesten
Jetzt kommen sie wieder, die Onkels und Tanten aus dem Westen, und erzählen den Ostdeutschen, wie sie gewählt haben. Das Gesicht der aufrechten Demokraten ist voller Sorgenfalten. Mit ihren vorgestanzten Sprüchen erklären sie die 13 Prozent für die DVU im Handumdrehen. Wer mit Linksextremisten koaliert, darf sich nicht wundern, wenn Rechtsextreme Wahlen gewinnen (Schäuble). Das ist das Ergebnis nicht eingehaltener Versprechen Helmut Kohls (Schröder). Schuld hat der Wähler (Glos). Vielleicht sollten wir einfach die Mauer wieder hochziehen?
Das Wahlergebnis von Sachsen-Anhalt und seine schlichte Analyse zeigt die Träumerei in Bonn quer durch alle Parteien. Mit den parteipolitischen Mustern und den traditionellen Kategorien des Westens ist der Osten nicht zu verstehen. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat – das sind für die Ostdeutschen keine Werte an sich, wie sie im Westen in Jahrzehnten gewachsen sind und wie sie dort verstanden werden. Die meisten Ostdeutschen mißtrauen nach dem Ende der DDR jeder Ideologie; die westlichen Werte taugen ihnen nur soviel, wie sie ihnen selbst bringen. Leere Versprechungen, keine Arbeit, eine Justiz, die in ihren Augen keine Gerechtigkeit hervorbringt – dafür machen die Menschen den westdeutschen Staat und seine Institutionen verantwortlich. Von der sozialen Marktwirtschaft haben nicht mal mehr 25 Prozent der Ostdeutschen eine gute Meinung.
In diesem Land haben sich zwei völlig unterschiedliche deutsche Kulturen entwickelt. Die kollektivistische Gesellschaft im Osten, die so etwas wie Individualität kaum hervorgebracht hat, verliert ihren autoritären Charakter eben nicht einfach dadurch, daß sie Westen wird. Das Ressentiment gegenüber dem „westlichen System“ ist aber auch ein Ergebnis der Versäumnisse und Fehler des Westens selbst. Solange die Ursachen für die Ernüchterung im Osten immer nur dann ins Blickfeld rücken, wenn die PDS in den Bundestag einzieht oder die DVU bei 13 Prozent landet, wirkt jede Belehrung aus dem Westen kontraproduktiv. Das Wahlergebnis für die DVU ist vielmehr Ausdruck dieses Ressentiments gegenüber Westdeutschland. Das mag verwundern angesichts der Tatsache, daß es keine ausgeprägtere Westpartei gibt als die DVU. Aber „Westen“ wird im Osten immer noch mit „Die da oben“ und Establishment übersetzt; eine Stimme für die DVU ist unter diesen Vorzeichen für viele Wähler eine Stimme des sozialen Protests.
Mit den Wahlen in Sachsen-Anhalt hat sich in Ostdeutschland endgültig ein eigenständiges Dreiparteiensystem etabliert. Dazu kommt ein Protestpotential, das im Moment weder von SPD noch CDU oder PDS gebunden werden kann. Ob der Erfolg der DVU in Sachsen-Anhalt der Beginn einer Entwicklung ist, die rechtsextremistische Parteien auch in andern Ostländern in die Parlamente führt, ist nicht auszuschließen; wahrscheinlich ist es nicht. Die Konstanten der Parteienentwicklung im Osten sind andere: Die CDU befindet sich gemeinsam mit Helmut Kohl im freien Fall, FDP und Grüne sind endgültig zu westdeutschen Regionalparteien geworden. Und die PDS ist auf dem Weg zu einer ostdeutschen Volkspartei.
Die Fixierung auf Parteien verstellt jedoch den Blick auf die rechte Szene im Osten. Rechtsextremismus äußert sich dort am wenigsten in einer Bindung an Parteien. Unter jungen Leuten ist es chic geworden, rechts zu sein. Rechtsextremismus ist eine sozial und kulturell verankerte Bewegung, die mancherorts bereits Teil des Alltagslebens ist. Natürlich gibt es darunter nicht wenige arbeits- und orientierungslose Jugendliche. Aber viele der jungen Leute haben eine Orientierung – eben eine rechtsextremistische. Allein mit Bildung und Sozialarbeit ist da nicht viel auszurichten. Aber auch diese Szene ist kein originäres ostdeutsches Gewächs. Wer sich vor Augen führt, wie überall in diesem Land mit Menschen- und Bürgerrechten umgegangen wird, mit welcher propagandistischen Untermalung in Bonn das Asylrecht faktisch abgeschafft worden ist, der erkennt den Anteil des Westens auch an dieser Züchtung. Jens König
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