Mit sich selbst im Widerspruch: Schnell weiter
Eine Ausstellung, die sich als Ort der Entschleunigung profilieren will, erreicht durch eine Fülle an Informationen und Kunstwerken genau das Gegenteil.
WOLFSBURG taz | Wer will, kann sofort Fangen spielen: Mit den Kugeln nämlich, die da im Foyer der Wolfsburger „Kunst der Entschleunigung“-Ausstellung liegen und deren System zu entschlüsseln so viel Spaß verspricht. 50 verchromte Aluminiumkugeln hat der Däne Jeppe Hein auf den Boden gelegt, und da rollen sie jetzt vor sich hin. Man geht hin und tippt sie an – klack, zucken sie zurück. Man dreht sich um – sie folgen. Man versucht ihnen den Weg zu versperren – sie rollen unbeirrt. Denn diese Kugeln haben ihr eigenes Gehirn, beziehungsweise ihr eigenes Motörchen und kümmern sich einen feuchten Kehricht um das, was ich will.
Apropos Motörchen: Da sind wir auch schon mitten drin im Spiel mit Be- und Entschleunigung, das die Ausstellung spielt, will sie sich doch als Ort der Muße profilieren. Deshalb nimmt der Parcours gleich zu Beginn das Kugel-Motiv auf und zeigt den von Goethe entworfenen „Stein des guten Glücks“, eine Kugel auf einem Quader. Die Skulptur symbolisiert die Balance von Tempo und Ruhe und sollte den rastlosen Dichter mahnen.
Gleich daneben steht das Extremste, das unsere Zeit zu bieten hat: die Kapsel von Hussein Chalayan, in der man wie im Auto durch die Lande gleitet, im leichten Wiege-Rhythmus. Die Kabine ist Uterus, Wanne und Essgemach zugleich. Man kann allein sein in ihr, andererseits ist sie gläsern und bietet kaum Geborgenheit.
So ausgewogen, wie die Schau es suggeriert, hat die Kunst natürlich nie zwischen Be- und Entschleunigung changiert. Aber man kann interessante Gleichzeitigkeiten finden. Die von Futurismus und Pittura Metafisica etwa, genauer: zwischen den Tempo-Freaks und der Stille eines Chiricio. Oder den Kubisten Robert Delaunay und den Farbfeldmaler Mark Rothko kontrastieren. Die rastlosen Videos von Bill Viola in die Nähe des Zen-Gartens des Wolfsburger Museums bringen.
All dies sind zwar Konstrukte, aber durchaus gelungene. Fast möchte man sagen: der Ansatz einer These. Die wird aber sabotiert durch den gleichzeitigen Versuch der Ausstellungsmacher, die Kunstgeschichte von der Romantik bis heute vollständig abzubilden.
Und während man mühsam durch die Kunstgeschichte stapft, bemerkt man, dass dies auch eine kleine Geschichte der Zeit ist, besser: von Zeit und Bewegung. Und dass sie einen manchmal sehr brutal mit der eigenen Fehlwahrnehmung konfrontiert. In dem Film „The Clock“ von Christian Marclay etwa, der bei der letzten Biennale in Venedig schockierte, sind Filmszenen mit Uhren so aneinander geklebt, dass sie insgesamt 24 Stunden anzeigen. Auch der Film dauert 24 Stunden.
Die Betrachter waren schockiert, und auch wer nur kurz folgt, ist es. Warum? Weil Zeit als objektiv messbares Faktum immer unzulänglich bleibt – Schaltsekunden, minuten, jahre beweisen es. Weil die Komponente der subjektiven, gefühlten Zeit wegfällt. Und weil man gar nicht möchte, dass das individuelle Zeitgefühl unterminiert wird – schon gar nicht im Medium Film, das oft eins der Illusion ist.
Übertragen auf die Kunst formuliert sich die Frage anders: Hat die meditative Kunst recht oder die stark bewegte – Rothko oder Bill Viola – oder sind beides mögliche Darstellungsvarianten von Zeit? Und hat Rothko bloß verdichtet, was etwa die Futuristen taten? Muss die auch derzeit allgegenwärtige Hektik irgendwann in Ruhe münden?
Werke wie Nam Juni Paiks Buddha-Kopf, der sich in Echtzeit per Video selbst beobachtet, sowie die gesamte, auf Kontrast gepolte Versuchsanordnung suggerieren es. Sehr standhaft behauptet die Ausstellung, dass die Sehnsucht nach Ruhe trotz allen Tempo-Wahns immer dagewesen ist.
Dabei hätte man es bewenden lassen können, hätte dem Betrachter Raum zur Reflexion geben können, aber nein: Anspielungen auf den September 2001, auf den Börsencrash von 2008 und auf den Super-GAU von Fukushima mussten mit hinein – sowie die Anmerkung, dass sich die Erde seither ein bisschen schneller dreht.
Andererseits haben die Kuratoren auch solche Werke hineingenommen, die das extrem Beschleunigte sehr poetisch machen. Den aus dem ersten Stock fallenden Wasserfall von Julius Popp – „bit.fall“ – zum Beispiel, der die meist-gegoogleten Worte aus angestrahlten Wassertropfen bildet, die dann auf ein Laufband fallen. Wohin fallen sie, wo kamen sie her, und sagt die Auswahl etwas aus? Und sind die wirklich so schnell weg, oder kann auch dieser Moment poetisch sein, ein Hauch von Ewigkeit?
Man dächte gern länger darüber nach, aber die Werkfülle der Schau verhindert es. Schlimmer: Man wird im Laufe des Parcours immer wütender angesichts der Fülle, die ja auch eine Art von Bevormundung und – Beschleunigung ist. So kann man, endlich im Obergeschoss angekommen, die Installationen „Bowl of Pearls“ des chinesischen Künstlers Ai Weiwei nicht mehr recht würdigen.
Und das ist schade, denn sie ist schlau gemacht. Zwei Porzellanschalen, die wie Reisschalen aussehen, hat er mit Süßwasserperlen gefüllt. Perlen kann man aber nicht essen, sie sind ein unzureichender Ersatz für den lebenswichtigen Reis und können durchaus ein Sinnbild für das im Konsumrausch versinkende China sein, dem die lebenswichtige Demokratie immer noch fehlt.
Das begreift man aber erst später – dann, wenn man sich von seiner Empörung über den Informationsüberfluss, den die Schau angeblich geißelt, erholt hat. Diese Ausstellung, das ist unbestritten, birgt wichtige Momente der Reflexion. Die wichtigste Entschleunigungs-Erkenntnis aber setzt sie nicht um: dass weniger mehr ist.
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