■ Mit seiner historischen Entscheidung, die quasi einer Amnestie für ehemalige Spione der DDR gleichkommt, hat das Verfassungsgericht wieder einen Webfehler der deutschen Vereinigung beseitigt...: Spionage muß nicht ewig Sünde sein
Mit seiner historischen Entscheidung, die quasi einer Amnestie für ehemalige Spione der DDR gleichkommt, hat das Verfassungsgericht wieder einen Webfehler der deutschen Vereinigung beseitigt. Nun wird nicht mehr unterschieden zwischen „guter“ und „böser“ Spionage.
Spionage muß nicht ewig Sünde sein
Am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) scheint man sich offensichtlich Sorgen um das Zusammenwachsen der ehemals getrennten deutschen Staaten zu machen. Immerhin haben die Karlsruher RichterInnen schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen einen Webfehler der deutschen Einigung beseitigt. Erst Ende April hatte der erste Senat des Gerichts klargestellt, daß es für die Eignung zum öffentlichen Dienst nicht allein auf die Zeit vor der Vereinigung ankommen könne. Die hierauf gestützte Kündigung eines ehemaligen SED-Funktionärs war deshalb aufgehoben worden.
Genauso symbolträchtig für den westdeutschen Umgang mit der ostdeutschen Vergangenheit war nun das langerwartete Urteil zur Strafbarkeit der ehemaligen Ost- SpionInnen. Zu offensichtlich war es hier zu einer Schieflage gekommen. Denn für bundesdeutsche AgentInnen bedeutete die Wiedervereinigung höchstens, daß sie sich einen neuen Arbeitsplatz suchen mußten. Ihre ehemaligen GegenspielerInnen aus dem anderen deutschen Staat sahen sich dagegen plötzlich der Strafverfolgung ihres neuen Heimatlandes ausgesetzt, obwohl sie schließlich nichts anderes getan hatten als ihre West- KollegInnen auch, nämlich fremde Staatsgeheimnisse zu verraten, zu vermitteln und zu kaufen.
Nichts illustriert das Unverständnis der Ost-SpionInnen für ihre neue Situation besser als der Verweis auf die altehrwürdige, aber immer noch gültige Haager Landkriegsordnung von 1907. Dort wird SpionInnen, die hinter die eigenen Linien zurückgekehrt sind und dort gefangengenommen werden, garantiert, daß sie „für früher begangene Spionage nicht verantwortlich gemacht werden“ können. Was also für die militärische Niederlage gilt, soll bei der friedlichen Vereinigung nicht gelten?
Trotzdem ließ sich das Bundesverfassungsgericht mit der Behandlung der Fälle vier lange Jahre Zeit. Zuständig war der mit allerlei Großverfahren überlastete zweite Senat. Diesmal gab es aber keine mündliche Verhandlung, nicht einmal eine mündliche Urteilsverkündung. Der Beschluß wurde trotz großen Medieninteresses einfach an der Pforte verteilt. Mit schlechtem Blick für die Symbolik wurde dabei nochmals deutlich, daß das Verfahren doch eher unter „ferner liefen“ verwaltet worden war. Tröstlich nur für die Betroffenen, daß sie das langsame Mahlen der Karlsruher Mühlen nicht durch schwedische Gardinen hindurch beobachten mußten. Im Fall der bundesdeutschen Sekretärin Sonja Lüneburg, die jahrelang den damaligen FDP-Minister Bangemann ausspionierte, schaltete sich Karlsruhe sogar mit einer einstweiligen Verfügung ein, um eine vorzeitige Verurteilung zu verhindern.
Ihr hat das gestrige Urteil allerdings keine frohe Kunde gebracht. Da sie stets nur einen westdeutschen Paß besaß, billigte ihr das Bundesverfassungsgericht kein Vertrauen in den Schutz durch die DDR-Staatsmacht zu. Sie wird wohl mit einer Verurteilung wegen Landesverrats und geheimdienstlicher Agententätigkeit rechnen müssen. Anders Markus Wolf, der ehemalige Geheimdienstchef der DDR. Er war im Dezember 1993 vom Düsseldorfer Oberlandesgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, legte hiergegen aber Revision beim Bundesgerichtshof ein. Dieser ist nun an das Votum der übergeordneten RichterInnen vom Bundesverfassungsgericht gebunden, das ganz auf die Hintermänner und -frauen in den Führungsetagen der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) zugeschnitten ist. Weil diese auf den Schutz der DDR vertrauen konnten, ist die nachträgliche Strafverfolgung durch die vergrößerte Bundesrepublik nach Ansicht der RichterInnen „unangemessen“. Sie würden nunmehr durch den eigenen Staat wegen Taten verfolgt, die sich gegen jenen damals für sie fremden Staat gerichtet hatten. Nicht einmal ein besonderes „Stasi-Unrecht“ konnte das BVerfG erkennen, obwohl die HVA dem Ministerium für Staatssicherheit angegliedert war. Ausschlaggebend für die Karlsruher Milde war letztlich die Erkenntnis, daß Spionage als Straftatbestand eine Klasse für sich darstellt, denn jeder Staat bestraft sie in der einen Richtung, während er sie gleichzeitig in der anderen Richtung selbst betreibt.
Mit dieser Argumentation kommt das Urteil dann aber doch keiner Totalamnestie für Wolf und andere gleich. Denn „normale“ Straftaten bleiben weiter verfolgbar. Wolfs Nachfolger Großmann war beispielsweise auch wegen Bestechung angeklagt. Hierfür wird er sich wohl doch noch vor Gericht verantworten müssen.
Etwas halbherzig ist auch der Umgang mit den direkt im Westen als AgentInnen agierenden DDR- BürgerInnen. Diese können zwar auch Vertrauensschutz in Anspruch nehmen, weil sie von ihrem Staat im Fall der Enttarnung wahrscheinlich gegen West-AgentInnen ausgetauscht worden wären. Ein generelles „Verfolgungshindernis“ wie bei den Hintermännern und -frauen hat das Gericht jedoch nicht anerkannt. In diesen Fällen müssen erneute Gerichtsverhandlungen klären, wie stark die bereits gefällten Urteile „gemildert“ werden können.
Vor den Strafgerichten muß auch noch geklärt werden, wie konspirative Treffen der Führungsoffiziere mit ihren AgentInnen in Staaten wie Schweden oder Österreich zu bewerten sind, ob bei diesen Dienstreisen ins nichtsozialistische Ausland vielleicht das Vertrauen in den lückenlosen Schutz durch die eigene Staatsmacht freiwillig aufs Spiel gesetzt wurde.
Der ganz große Wurf ist dem BVerfG nicht geglückt, sollte wohl auch gar nicht versucht werden. Die Berufung auf das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ja immer dann besonders praktisch, wenn eine nach allen Seiten ausgewogene Lösung gefunden werden soll, die vor allem dem (mal mehr, mal weniger vorhandenen) „gesunden Menschenverstand“ der RichterInnen entsprungen ist.
Auch das Minderheitenvotum der drei konservativen Richter Klein, Kirchhof und Winter (der ebenfalls von der CDU nominierte Konrad Kruis stimmte mit der Mehrheit) war wohl nicht als unversöhnliche Geste gen Osten gemeint. Auch dort war man gerne bereit, die Sondersituation nach der Vereinigung im Rahmen einer Einzelfallprüfung anzuerkennen. Im Hintergrund der abweichenden Meinung stand eher das Unverständnis über die geheimdienstpolitische Unbedarftheit der Karlsruher Mehrheit: Wie kann man Straffreiheit gewähren, ohne im Gegenzug „die Offenbarung des aus früherer Tätigkeit erlangten Wissens“ zu fordern, fragten sich die drei „Strategen“. Christian Rath, Karlsruhe
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