■ Mit seiner Rede in Moskau bewies Helmut Kohl Geschick: Kritik in homöopathischer Dosis
„Der Kanzler wird keine Rede halten, aber er wird das Wort ergreifen“, beschied man uns vor einiger Zeit in der deutschen Botschaft in Moskau. Wie wir gestern abend sehen konnten, hat diese Absicht sozusagen die homöopathische Variante einer politischen Rede gezeugt, nicht gerade die ungeschickteste Dosierung im gegebenen Augenblick.
Manchmal ist es das Klügste, so zu tun „als ob“. Dieser Erkenntnis hat unser Kanzler ein weiteres Mal – und diesmal weise – Rechnung getragen, indem er der gegenwärtigen russischen Führung die „gemeinsame Überzeugung“ unterstellt, „Friede beginnt mit der Achtung der unbedingten Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens“. Direkte Anspielungen auf das tschetschenische Gemetzel hätten den Verdacht erweckt, Deutschland wolle das Augenmerk weg vom historischen Balken im eigenen Auge lenken – auf etwas im Auge des Gegners, was Menschen als einen „Strohhalm im Auge des Gegners“ bezeichnen könnten. Zu einem solchen Schluß könnten zwar nur solche Zeitgenossen kommen, die kriegerische Konflikte nach der Zahl der Opfer bemessen – aber davon gibt es überall nur allzu viele. An erster Stelle stehen in Kohls Ausführungen das Gedenken an die Opfer und das uneingeschränkte Eingeständnis der deutschen Kriegsschuld – ein Resultat der beharrlichen Versuche eigener Vergangenheitsbewältigung, die die Mehrheit der Nachkriegsgeneration in unserem Lande unternommen hat. Zwei Sätze erinnern das Gastland daran, daß diese Bewältigung auch vor den Siegern nicht haltmacht: „Ich erinnere auch an Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen, besonders in meinem eigenen Land“, heißt es da, auch ist die Rede davon, daß das Ende des Zweiten Weltkrieges „nicht allen Menschen in Europa – auch nicht in Deutschland – persönliche Freiheit und die Herrschaft des Rechts verhieß“. Indem er auf gegenwärtigen Unfrieden und Unterdrückung in Europa hinweist und über die gemeinsamen Chancen zum Bau einer Friedensordnung spricht, vermeidet es der Kanzler, dem potentiellen Politik- und Wirtschaftspartner Rußland irgendeinen Schwarzen Peter zuzuschieben. Gleichzeitig zieht er die Konsequenzen aus dem Beschluß des Bundestages, künftig die Beteiligung der Bundeswehr an UN-Friedensmissionen zuzulassen.
Alles in allem wünscht man dieser Rede, daß sie als selffulfilling prophecy wirken möge. Nur der letzte Satz stellt sich da quer. Kanzler Kohl wünscht dem russischen Volk auf seinem Wege in die Zukunft „Gottes Segen“ . Soweit uns bekannt ist, fungiert Helmut Kohl noch nicht als Stellvertreter Gottes auf Erden, sondern bloß als Repräsentant der bundesdeutschen Bürger. Barbara Kerneck
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