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Mit der Flasche auf DU und DU

■ Chronologie einer der bisher spektakulärsten Boykottaktionen

Chronologie einer der bisher spektakulärsten Boykottaktionen:

1970: Erste warnende Stimmen von Medizinern vor der Saugflasche und vor den Werbefeldzügen der Babymilchindustrie in der Dritten Welt. Ein Dialog zwischen der Weltgesundheitsorganisaton WHO, dem Kinderhilfswerk Unicef, der „Proteinberatungsgruppe der UN“ (PAG) und den Babymilchfirmen führt zu wohlklingenden Absichtserklärungen, während die Milchfirmen gleichzeitig ihre Werbetätigkeit beträchtlich verstärken.

1973: Das britische Magazin 'The New Internatonalist‘ bringt den ersten öffentlichen Bericht über den Zusammenhang zwischen den Werbepraktiken der Babynahrungsindustrie und Unterernährung und Infektionskrankheiten bei Säuglingen heraus.

1974: Publikation des Reports The Baby Killer durch „War on Want“ in Großbritannien; die Arbeitsgruppe „Erklärung von Bern“ übersetzt The Baby Killer und veröffentlicht ihn im Mai unter dem Titel Nestle tötet Babys. Die WHO fordet in einer Resolution die staatliche Einschränkung irreführender Werbung für Babymilch. Im Juni reicht Nestle in Bern Strafanklage wegen Ehrverletzung gegen die „Erklärung von Bern“ ein, wegen des Titels, Nestle tötet Babys. Ursprünglich hatte der Konzern auch die Vorwürfe als ehrverletzend angesehen, die Tätigkeit Nestles sei unethisch und unmoralisch, Nestle sei wegen der Verkaufsförderung im Sektor Kindernahrung verantwortlich für den Tod oder die bleibende geistige und körperliche Schädigung Tausender von Kindern, und die Nestle -Verkaufsassistentinnen seien als Krankenschwestern getarnt. Die letzten drei Punkte der Anklage zog Nestle zurück. Der direkte Tötungsvorwurf wurde der Gruppe vom Gericht untersagt, das Urteil wurde 1976 gefällt.

Der Prozeß zog eine große internationale Aufmerksamkeit nach sich. Peter Krieg tat durch seinen WDR-Film Flaschenkinder ein übriges dazu. Nestle stellte fest, daß es seine Geschäftspraktiken nicht ändern wolle, zwei der bedeutendsten Konkurrenten, die amerikanische Abbott und die britische Unigate, gestanden die Fragwürdigkeit ihrer Werbetätigkeit öffentlich ein und stellten sie zumindest vorübergehend ein.

1975: Mehrere große Babynahrungsfirmen gründen das „International Council of Infant Food Industries“ (ICUIFI) und publizieren einen vagen und sehr umstrittenen „Codex“ für ethisches Verhalten in der Werbung.

1976: Die „Arbeitsgruppe für sozialökonomische Probleme“ startet in der BRD eine Kampagne und erste Boykottaktionen. Kritiker der Babynahrung aus acht verschiedenen Ländern treffen sich in der Schweiz.

1977: Die „Infant Formula Action Coalition“ (INFACT) startet einen nationalen Boykott in den USA. Er findet breite Unterstützung, so daß sich Nestle-Vertreter mit INFACT treffen.

1978: Im US-Senat findet eine Anhörung statt, in der beschlossen wurde, eine internationale Konferenz abzuhalten.

1979: Der US-Boykott wird vom Nationalen Kirchenrat, von der Landarbeitergewerkschaft und anderen Organisationen unterstützt. WHO und Unicef veranstalten in Genf eine Konferenz. Das „International Nestle Boykott Committee“ (INBC) wird von 30 Organisationen gegründet, koordiniert den Boykott jetzt international und verhandelt ab sofort gebündelt mit Nestle.

1981: 118 Staaten stimmen auf der Vollversammlung der WHO dem Kodex zur Vermarktung von Muttermilch zu (die USA stimmen dagegen): keine Werbung direkt an den Verbraucher gerichtet oder in Krankenhäusern, keine Kontakte zwischen Marketingexperten und schwangeren Frauen, keine Verkaufsprämien, keine Geschenke an Gesundheitspersonal.

1982: Nestle gibt im Mai eigene Verkaufsrichtlinien heraus, nach scharfer Kritik von Unicef werden sie im Oktober revidiert, nach Erkenntnissen der Aktionsgruppen jedoch ständig unterlaufen.

1983: Dem INBC gehören inzwischen 80 Organisationen an. Es laufen weiter Verhandlungen mit Nestle. Das Europaparlament fordert die Kommission zur Übernahme des WHO-Kodex auf.

1984: Nestle verspricht, den Kodex anzuerkennen; INBC sieht zwar weiterhin Unterschiede zum Konzern in der Interpretation des Kodex, beendet jedoch den Boykott.

taz (nach der Broschüre

Boykott kaputt von April 1984

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