Mit dem Zug nach Bali (Teil I): "Für Klimawandel gibt es kein Wort"
Im Dezember findet auf Bali die UN-Klimakonferenz statt. Unser Reporter ist schon unterwegs - klimaschonend. Und beobachtet unterwegs, wie Menschen mit dem Thema umgehen.
CHARKOW/SARATOW taz Irgendwo hinter Kiew, rund 2.500 Zugkilometer von Berlin entfernt. Ein Gang auf die Toilette kostet mittlerweile größte Überwindung. Wer kann, wartet bis Charkow, der zweitgrößten ukrainischen Stadt. In dem Bahnhofsgebäude, das doppelt so groß und dreimal so schön ist wie der Berliner Hauptbahnhof, wird sich gewiss ein sauberer Ort finden. Ablenkung schafft ein Gespräch mit Wiktor, der im Zug in seine Heimatstadt Lemberg sitzt. Thema, wie so oft in diesen Tagen, ist die Politik und das Verhältnis zu Russland. Der vom Kreml dominierte Energiekonzern Gazprom hat den abtrünnigen Nachbarn an seine Schulden erinnert - 1,3 Milliarden US-Dollar, etwa 920 Millionen Euro.
Nick Reimer ist Redakteur im Ressort Wirtschaft & Umwelt der taz. Zum Welklimagipfel im Dezember hat er sich mit dem Zug Richtung Bali aufgemacht.
Fliegen ist die klimaschädlichste Art der Fortbewegung. Trotzdem nutzen Anfang Dezember rund 6.000 Diplomaten, Wissenschaftler, Minister, Lobbyisten, Klimaschützer und Journalisten diesen Weg, um auf die indonesische Insel Bali zu gelangen. Dort findet vom 3. bis 14. Dezember der nächste Weltklimagipfel statt. Wer von Deutschland nach Bali fliegt, verbraucht 4,4 Tonnen Kohlendioxid - soviel wie fünf Inder in einem Jahr. Ist der Zug eine Alternative? Welche Rolle spielt der Klimawandel im Alltag? Ist Klimapolitik ein Wohlstandsphänomen? Einmal in der Woche schickt Nick Reimer seine Eindrücke
"Wir sind doch ein souveräner Staat", schimpft Wiktor. Für ihn liegt die Lösung auf der Hand: "Wir brauchen neue Atomkraftwerke." In der Zentralukraine seien reiche Uranvorkommen entdeckt worden. "Wir könnten uns unabhängig machen, wir könnten es denen zeigen."
Auch Liuba Pikulia begrüßt die Debatte um neue AKWs in der Ukraine. Die 26-Jährige ist Führerin im Tschernobyl-Museum in Kiew. Wortreich schildert sie das Grauen, das die Havarie am Block 4 des Atomkraftwerkes Tschernobyl bis weit über die Ukraine hinaus brachte. "Natürlich war die Reaktorkatastrophe schrecklich. Aber die Klimakatastrophe wird schrecklicher - schon weil sie alle Menschen auf der Erde treffen wird."
Tatsächlich steigt der Kohlendioxid-Ausstoß in der Ukraine pro Kopf nach Jahren der Stagnation wieder an. Mit 6,4 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf emittiert jeder Ukrainer so viel wie jeder Schweizer - allerdings nur knapp halb viel wie ein Deutscher. Wegen des rasanten Wirtschaftswachstums, das 2006 7,1 Prozent betrug, steigt aber auch der Energiehunger wieder. Und Energieeffizienz spielt nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle.
Ebenso im russischen Saratow, 700 Zugkilometer weiter. Lenin thront noch immer auf dem Sockel des Zentralplatzes der Millionenstadt. Mühsam schiebt sich der Verkehr über die Wolgabrücke hinüber in die Nachbarstadt Engels. Nur wenige Kilometer flussaufwärts liegt die Stadt Marx. Weil der Fluss hier gut anderthalb Kilometer breit ist, sind Brücken rar. Seit es den Russen besser geht, ist das Verkehrsaufkommen rasant angestiegen.
Saratow ist eine jener russischen Provinzhauptstädte, die vorgeben, sehr modern zu sein. Doch für den Klimawandel gibt es hier kein Wort. Die Leute wissen nicht, was damit gemeint sein soll. Dafür beginnt am 15. Oktober, also heute, der Winter. Die letzten Tage war es 19 Grad warm. Aber egal, was das Thermometer heute zeigen mag: Die Thermostate werden überall in den Gebäuden auf Frost eingeregelt. Wenn es zu warm wird, wird gelüftet. Ohnehin werden Strom und Gas meist pauschal abgerechnet, was dazu führt, dass die Leute auch das Licht brennen lassen, wenn sie verreisen. Das soll Einbrecher abschrecken.
Mit 14 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf und Jahr sind die Russen schlimmere Klimasünder als die Deutschen. Das liegt allerdings vor allem auch an der ineffizienten Wirtschaft und dem Gas, das als Nebenprodukt bei der Erdölförderung massenhaft abgefackelt wird.
Im Bus der Linie 247k steht: "Fahren ohne gültigen Fahrausweis: 80 Schweizer Franken, zusätzlich 20 Franken Bearbeitungsgebühr bei nicht sofortiger Bezahlung im Fahrzeug." Das Relikt aus dem Vorleben des Fahrzeugs belustigt den 25-jährigen Andrej. "Das sind ja mehr als 2.000 Rubel" - fast ein Drittel des durchschnittlichen Monatslohns. So teuer ist Schwarzfahren hier nicht, und trotzdem kaufen alle brav ihre Billets. Denn auch die sind eindeutig billiger als im Westen. Eine "Deschurnaja", eine Diensthabende, verkauft sie im Bus für knapp 20 Cent.
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