Mit Lüftungsklappen in DIN A4: „Kaum größer als ein Sarg“

Zwei Wochen unterwegs in Nordindien mit dem Rollenden Hotel, kurz Rotel genannt. Die Schlafkabine bemisst sich auf bescheidene 65 mal 70 mal 190 Zentimeter.

Rollendes Hotel in Indien Bild: Rotel Tours

Möglicherweise habe ich gerade meine Großmutter erschlagen. Aber egal. Augenblicklich rückt Nachschub an - Moskitos. Ich ergebe mich meinem Schicksal. Gegenwehr aussichtslos. Zumal mein Bewegungsspielraum stark eingeschränkt ist. Er bemisst sich auf 65 mal 70 mal 190 Zentimeter. So groß sind hier die Schlafzimmer.

Der Gründer und Erfinder von Rotel Tours - Das Rollende Hotel - ist Georg Höltl aus Tittling. Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierte er Busreisen zu den bekanntesten Pilgerorten in Europa. Um die Reisekosten so gering wie möglich zu halten, übernachteten die Teilnehmer in Zelten. Gekocht wurde in einem Anhänger, in dem eine Campingküche montiert war. Nachdem bei einer Fahrt 1958 ein Unwetter einer Reisegruppe sämtliche Zelte weggespült hatte, suchte Höltl nach einer Möglichkeit, sich vom Wetter unabhängig zu machen. Das Ergebnis seiner Tüfteleien meldete er 1959 beim Deutschen Patentamt an: "Ein Fahrzeugaufbau, insbesondere für Reiseomnibusse oder Anhänger solcher Omnibusse, mit Schlafkabinen".

Noch im selben Jahr brach der erste Omnibus mit dem neuartigen Schlafanhänger zu einer 38 Tage dauernden Pilgerfahrt nach Jerusalem auf. Seitdem vollbringt Rotel bei Busreisen immer wieder Pionierleistungen. 1962 führte das Unternehmen die längste Busreise der Welt durch: von Deutschland

auf der Alten Seidenstraße bis nach Indien, 36.000 Kilometer in 81 Tagen! Es war ein Bus von Rotel Tours, der 1969 als erster die Sahara durchquerte. Etwa 80 Rollende Hotels sind heutzutage weltweit unterwegs, etwa 300.000 Übernachtungen zählt das Unternehmen pro Jahr. Rund 80 Prozent der Kunden sind "Wiederholungstäter".

Rotel Tours, Herrenstraße 11, 94104 Tittling, Telefon: (0 85 04) 4 04-0, Fax: (0 85 04) 49 26, E-Mail: info@rotel.de www.rotel.de

Wir sind unterwegs in Nordindien. Von Reiseleiter Hermann haben wir bereits am ersten Tag gelernt, dass verstorbene Angehörige nach hinduistischem Glauben durchaus als Moskito wiedergeboren werden können. Was das Erlegen der Plagegeister zusätzlich erschwert: Bei jedem Schlag gegen die Wand könnte man seinen Nachbarn zu Tode erschrecken. Denn der liegt nur zwei Zentimeter Luftlinie weiter: neben, unter und/oder über einem. 18 Personen auf Tour mit einem Rollenden Hotel, kurz Rotel genannt. Ein Rollendes Hotel ist ein Anhänger mit 42 Schlafkabinen, jeweils 14 neben- und drei übereinander. Dieser Schlafanhänger wird von einem Bus mit ebenso vielen Sitzplätzen gezogen, zu fast allen erdenklichen Reisezielen weltweit. Bei unserer „kleinen“ Rotel-Variante für bis zu 20 Teilnehmer sind die Kabinen direkt im hinteren Teil des zwölf Meter langen Busses montiert.

Als in Neu-Delhi die Klappen unseres Rotels das erste Mal geöffnet werden - eine nach oben, eine nach unten - trennt sich binnen Sekunden die Spreu vom Weizen, sprich die erfahrenen Rotelianer von den Neulingen. Mit routinierten Handgriffen montieren die „Erfahrenen“ die Stahlstützen unter der nach unten geklappten Rampe, die quasi das „Vorzimmer“ bildet. Ingeborg erstickt fast an ihrem Lachanfall, einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verzweiflung, als die Vorhänge zu den Kabinen aufgezogen werden. „Das ist ja kaum größer als ein Sarg.“ Die einzelnen Kabinen sind nicht breiter als sie in den Hüften. Die anderen Neulinge murmeln beim Anblick der Schlafgemächer Wörter wie „Karnickelstall“ oder „Brutkasten“. Die erfahrenen Rotelianer lächeln: „Das ist viel bequemer, als es auf den ersten Blick aussieht.“

Reiseleiter Hermann verteilt die Plätze. Die beliebtesten Kabinen sind offensichtlich die auf der mittleren, hüfthohen Ebene, in die man ohne große Anstrengung vorwärts hineinkrabbeln kann. Mit Anfang vierzig bei weitem der Jüngste der Gruppe, muss ich nach ganz oben. Der Einstieg klappt nur mit einer Methode - siehe Original-Rotel-Gebrauchsanweisung: „So schlüpft man richtig: Nach alter deutscher Art arbeitet man sich robbend zum Kopfkissen vor. Dann liegt man gut und bequem.“ Am Kopfende befindet sich ein DIN-A4-großes Fensterchen, das man in der Hoffnung auf Durchzug nachts aufklappen kann.

Die erste Nacht ist eine Herausforderung - nicht nur für unerfahrene Teilnehmer. Nach tagsüber mehr als 40 Grad sind die Kabinen in der Nacht ordentlich aufgeheizt. Durchzug, Ventilator, Klimaanlage - Fehlanzeige. Nackt und verschwitzt starre ich an die Decke und hoffe, diese Nacht möge vorbei sein. Dazwischen erlege ich ein paar Moskitos. Doch Gegenwehr ist nutzlos.

Eine Reise mit Rotel ist eine Mischung aus Klassenfahrt und Campingurlaub. Der Altersdurchschnitt der Reisegäste liegt deutlich über Mitte 50. Bereitschaft zu Geselligkeit ist unabdingbar. Wenn keine Besichtigungen auf dem Programm stehen, ist der Bus der Lebensmittelpunkt der Gruppe. Für gute Laune und positive Gruppendynamik sorgt Klaus, der nicht nur Fahrer, sondern auch Koch ist. Die Klappe am Heck heruntergeklappt - fertig ist sein morgendlicher und abendlicher Arbeitsplatz. Alle packen mit an: Gemeinsam werden Tische und Stühle aufgebaut, Gemüse geschnippelt und die großen Töpfe abgespült. Für sein Tellerchen ist jeder selbst verantwortlich. Zusammen mit Messer, Löffel, Gabel hat jeder am ersten Tag sein persönliches Essensgeschirr im roten Nylonbeutel bekommen.

Wenn möglich, fährt Rotel zum Übernachten einen Campingplatz an. Da solche Einrichtungen in Nordindien unbekannt sind, wird der Bus in diesem Land nächtens auf den Grundstücken von Hotels geparkt. Das kann der beeindruckende Innenhof eines ehemaligen Maharadschapalastes sein, aber auch ein Schotterparkplatz neben einer stark befahrenen Hauptstraße. Rotel-Reisende nehmen solche Überraschungen gelassen: Sie sind weit gereist: Iran, Australien, Vietnam, Norwegen, USA ...

Neuling Klaus kapituliert nach der ersten Nacht. Ab der zweiten nimmt er sich abends ein Hotelzimmer. Christoph zieht einen Tag später nach. Für Routinier Hans ist ein solches Verhalten nicht nachvollziehbar: „Wo ist das Problem?“ Er ist seit fast vier Jahrzehnten überzeugter Rotelianer, war 1969 bei der ersten Sahara-Durchquerung dabei. „Mit Rotel sieht man mehr als mit anderen Veranstaltern, und das für weniger Geld“, sagt Hans. Tatsächlich hat es das tägliche Besichtigungsprogramm in sich: Fünf Führungen in Tempeln und anderen Denkmälern pro Tag sind keine Seltenheit. Während der Fahrten zwischen den einzelnen Sehenswürdigkeiten referiert Reiseleiter Hermann ausführlich über Sitten und Gebräuche.

Vielerorts ist das Auftauchen des großen roten Busses ein ähnlich spektakuläres Ereignis wie kurz nach seiner Erfindung vor fast 50 Jahren. Bei Zwischenstopps in kleinen Dörfern scharen sich binnen Sekunden Dutzende Menschen um das monströse Gefährt.

1.616 Reisekilometer stehen am Ende der knapp zweiwöchigen Reise durch Nordindien auf dem Tachometer. „Das ist vergleichsweise wenig“, sagt Routinier Bernd. „Im Iran haben wir in der gleichen Zeit mehr als 4.000 Kilometer gemacht.“ Es war wieder einmal eine „schöne Reise“, resümiert Otwin am Ende der zwei Wochen: „Mal schauen, wie lange es dauert, bis ich mich wieder an mein Bett gewöhnt habe.“

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