: Mit Geheul und Gelächter kopfüber durch die vierte Wand
■ Hier gibts Premierensekt schon vor der Aufführung: „Timon von Athen“in der Company als tragikomische Clownerie
Eine Korrektur: Die vierte Wand – jenes unsichtbare Ding zwischen Bühne und Publikum – wird entgegen anderslautenden Berichten nirgendwo so wirkungsvoll durchbrochen wie in unserer Bremer Shakespeare Company. Da werden die ZuschauerInnen am Gang kurzerhand in AthenerInnen verwandelt, da wird eine Companybesucherin mitten im Stück zum Tanz aufgefordert oder da springt die Schauspielerin Dagmar Papula einem Theatergänger sogar heulend auf den Schoß: So wenig Distanz zwischen Parkett und AkteurInnen gibt es einfach nur hier! Und dennoch unterscheidet sich die neue Inszenierung „Timon von Athen“von früheren Produktionen des Theaters am Leibnizplatz.
„Ich wollte kein Stück machen a la drei Schauspieler spielen 80 Rollen in zwei Stunden“, hat die Burg- und Schiller-Theater-erfahrene Regisseurin Vera Sturm schon vor der Premiere am Mittwoch abend angekündigt. Richtig gezählt, spielen drei SchauspielerInnen drei Haupt- und vier kleine Rollen in knapp drei Stunden. Doch sie brechen dabei nicht mehr zu einem Wettlauf in den Disziplinen Kostüm- und Figur-Wechsel-Dich auf, sondern entfalten in den besten Momenten ein feingliedriges, hintergründiges und vor allem komisches Spiel in einem Stück, das in den Schauspielführern eigentlich als Tragödie annonciert ist.
In der Atmosphäre bitterer noch als King Lear, schildert Shakespeare des Philantropen Timon Verwandlung zum Menschenfeind. Großzügig und gönnerhaft zahlt der reiche Athener sich und seinen falschen Freunden die große Sause, bis er, inzwischen pleite und selbst bedürftig, eine Abfuhr nach der anderen erhält und daraufhin nur noch mit Haß protzt. Shakespeare gruppiert ungezähltes Personal um diesen ziemlich eindimensionalen Plot herum. Die Übersetzerin und Regisseurin Vera Sturm hingegen entvölkert die Tragödie und schreibt sie zu einer Art Clownerie um.
In diesem „Timon“gibt es den Premierensekt samt Schnittchen schon vor der Aufführung, denn die Company feiert Timons Fest, und Dagmar Papula und Norbert Kentrup geben weiß-livriert das Ober-Duo. Ohnehin scheint dieses Stück anfangs den beiden Altvorderen der Company regelrecht auf den Leib geschrieben zu sein: Laute Gesten und erste wortwitzige Schneebällchen fliegen zwischen ihnen hin und her, bis sie die Rollen wechseln und das eigentliche Spiel beginnt.
Das ganze Haus in Partystimmung: Bühnenbildner Vincent Callara hat im „weiten Rund“Kerzenlampen aufgehängt und ein mit rotem Samt umschlagenes Geländer darüber angebracht. Die Bühne selbst ist mit weißem Tuch gedeckt. Nur ein Loch hat Callara ausgespart, aus dem der Götterbote Merkur (Barbara Kratz) Torfmull schaufelt und sich fortan als Kommentator, Beschleuniger und Abkürzer in die Handlung einmischt.
Das Geschehen ist über die weitesten Strecken konzentriert auf das Wesentliche: Auf den jähen Fall des Timon (Kentrup) und dessen Diener Apemantus (Papula), der ihn in „guten und schlechten Tagen“begleitet. Und geradezu eheähnlich sind Sir Timon – erst in Partyrobe, dann förmlich abgerissen – und Diener Apemantus miteinander verbändelt.
Vom Tragischen bleibt die Geschichte eines Scheiterns, die Norbert Kentrup durch sein überraschend un-deftiges Schauspiel als Scheitern eines Gegenwartsmenschen interpretiert. Dagmar Papula scheint als Apemantus mit heruntergezogener Melone, Aktentäschchen und vor allem der Neigung zu Heulanfällen entfernt mit Stan Laurel verwandt und sorgt in erster Linie für den clownesken Teil, der sich wie ein roter Faden durch Vera Sturms Inszenierung zieht. Wenn die drei AkteurInnen das Publikum einbeziehen oder wenn das Duo Papula und Kentrup auf den Galeriegängen entlangläuft und sich die Worte zuwirft, erreicht das Spiel Höhepunkte im Sinne alter Screwball-comedys.
Nur leicht krankte die Premiere an den extremen Anforderungen von Textflut und Bühnenpräsenz, die die beiden Hauptakteure zu bewältigen haben. Doch wenn sie das Stück häufiger spielen und sich die Freiheit der Improvisation nehmen, könnte sich dieser „Timon“zu einem Highlight unter den Company-Produktionen mausern.
Christoph Köster
Weitere Aufführungen am 21. und 28. November sowie am 6. Dezember um 19.30 Uhr im Theater am Leibnizplatz
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