Mit Askese durch die Krise: Verweigere dich durch Disziplin
Askese könnte zu utopischen Praktiken führen. Mit etwas mehr Sexappeal als Mülltrennung und scheußlichen Energiesparlampen.
Wenn man dieser Tage die Zeitung aufschlägt, liest man: 1.000 Milliarden Euro bereitgestellt für die Rettung der Welt, 3.500 Milliarden Euro bewilligt für Obamas Haushalt, 100 Millionen Euro Kaution hinterlegt von einem korrupten österreichisch-britischen Banker. Kein Wunder, dass langsam eine neue Sehnsucht nach Moral entsteht. Die Moral hatte ja selbst eine neoliberale Konjunktur.
Man konnte sie beruhigt externalisieren, der Markt würde das schon an unserer Stelle regeln. Mit dem Versprechen des Marktes, als Maschine zu fungieren, in die man Eigennutz einspeist und aus der allgemeiner Nutzen herauskommt, konnte man sich ungeniert seiner Gier hingeben. Und das betraf nicht nur ein paar korrupte Banker. Slavoj Zizek schrieb schon vor Jahren, der kategorische Imperativ des Kapitalismus laute: Genieße! Dies war keine Möglichkeit mehr, sondern längst eine Forderung.
Nun erleben wir die Anstrengung, wieder Regulierungen, also Hemmungen, Schwellen, einzubauen. Der Club-of-Rome-Bericht aus dem Jahre 1972 wird hervorgekramt. Seine damalige Mahnung, es gäbe Grenzen des Wachstums, soll heute Programm werden. Allerorten sucht man nach einem neuen Gesellschaftsvertrag, einem New Deal, dessen Konturen noch nicht ganz klar sind, aber dessen Prämisse schon feststeht: Sie lautet Beschränkung. Gleichzeitig ergeht an den Einzelnen die fast flehentliche Botschaft: Bitte, konsumiere weiter!
Aber die Bekämpfung der skrupellosen Frivolität auf den Finanzmärkten durch einen Exzess an Staatsfinanzen mit unvorstellbaren Summen erzeugt einen gegenteiligen Effekt: Sie produziert eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Moral, nach einer persönlichen Wiederaneignung der Moral. Denn wenn der Neoliberalismus die bis vor kurzem vorherrschende Ideologie war, dann bedeutet dies, dass er in unser aller Köpfe eingedrungen ist. Jetzt ist nicht nur das Vertrauen in die Banken geschwunden, sondern auch das Vertrauen in den Markt als Maschine, der man beruhigt die Moralproduktion überlassen kann. Es ist also an der Zeit, diese wieder selbst zu übernehmen, sie zu internalisieren, sie in den Einzelnen zu verlegen. Und hört man nicht schon da und dort Stimmen, die davon sprechen, dass die Leute in den ehemaligen Ostblockländern viel besser für die Krise gerüstet seien als wir, die wir zu saturiert sind? Da klingt doch durch die Aufforderung zum Konsum eine alte Melodie durch: Gürtel enger schnallen, Opfer bringen.
In diesen Zeiten, wo man ständig die verstaubtesten Bücher aus seiner Bibliothek hervorkramt, lohnt es sich bei Arnold Gehlen nachzuschlagen: "Wenn man sich einen Ausweg vorstellen könnte", heißt es da, "so wäre es eigentlich nur noch die Askese." Das Erstaunlichste an dem Satz ist vielleicht, dass man plötzlich etwas mit ihm anfangen kann. Ebenso wie mit Gehlens Gedanken, dass nicht Konsum, sondern nur Heroismus ein erstrebenswertes Ideal sei. Aber da Heldentum und Krieg ob ihrer fatalen Folgen unakzeptabel seien, bliebe nur die Askese als heroische Herausforderung. Wenn man bedenkt, wohin die Krise von 1929 geführt hat, liest man gerne weiter. Etwa dass Gehlen drei Arten von Askese unterscheidet: Opfer, Disziplin, Stimulans. Während er vom Opfer absieht, legt er Nachdruck auf die anderen beiden Formen der willentlichen Selbstkontrolle. Durch Foucault, unsere Schulerfahrung und die Kritik am Fordismus sind wir daran gewöhnt, Disziplin negativ zu konnotieren. In Gehlens konservativer Kritik erscheint sie hingegen als Verweigerung, als "Ausschluss vom Wettlauf nach Wohlleben". "Askese", so Gehlen, "muss heute zu heroischen Zielen aufrufen." In der Gegnerschaft zum Exzess der letzten Jahrzehnte könnte ihr so ein heroisches Ziel zuwachsen. Sie könnte zu utopischen Praktiken führen mit etwas mehr Sexappeal als Mülltrennung und scheußlichen Energiesparlampen. Nicht zufällig heißt Peter Sloterdijks neues Buch "Du mußt dein Leben ändern".
Aber da auch George Batailles "Ökonomie der Verschwendung" sich von einem Einspruch gegen die Kapitalakkumulation und einer existenziellen Grenzerfahrung in die große Party des Marktes verwandelt hat, sei daran erinnert, dass in einer anderen Zeit die "asketische Lebensführung direkt die kapitalistische Lebensform" beeinflusst hat, wie Max Weber schrieb. Was heute noch als Widerstand, als Verweigerung gegenüber dem Markt verstanden wird, kann morgen schon wieder höchste kapitalistische Tugend sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt