: Mißtrauen gegen „Kader“ berechtigt
■ Bisher kamen zu wenig Reformbestrebungen aus den Hochschulen selbst/ Die Kahlschlaglösung der Bildungspolitiker allerdings ist kein guter Neuanfang
Mahnwachen in Berlin, Straßensperren in Leipzig und Protestdemos in Erfurt stehen seit einer Woche auf dem Studienplan der Studenten in den neuen Bundesländern. Was sie erstmals so richtig aus ihrem Alltag herausreißt, sind die Zukunftspläne ihrer Bildungs- oder Wissenschaftsminister: Die Hochschulstruktur in der ehemaligen DDR soll umgekrempelt werden. Im Einigungsvertrag heißt das Zauberwort dafür „Abwicklung“. Bis zum 31. Dezember 1990 müssen die Länder entscheiden, welche Bildungseinrichtungen sie übernehmen oder „abwickeln“ — im Sinne von Auflösen. Unter den Hammer sollen dabei Hochschulbereiche und ganze Ausbildungsstätten in allen neuen Bundesländern kommen. Besonders trifft es die „ideologisch belasteten Fakultäten und Fächer“, wie die früheren Marxismus/Leninismus-Sektionen, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Philosophie, Geschichte, Pädagogik und Kulturwissenschaft.
Während in Berlin besonders die Humboldt-Universität und die Hochschule für Ökonomie betroffen sind, berührt die Abwicklung in Thüringen vor allem die Wirtschafts- und juristische Fakultät der Universität Jena sowie Teile der Pädagogischen Hochschule Erfurt. In Mecklenburg- Vorpommern war geplant, die Pädagogischen Hochschulen in Güstrow und Neubrandenburg und die geisteswissenschaftlichen Bereiche der Unis in Rostock und Wismar abzuwickeln. Aber nachdem Studenten den Landtag in Schwerin gestürmt hatten, machte Kultusminister Oswald Wutzke (CDU) einen Rückzieher. Er bleibt jedoch bei seinen Auflösungsplänen für die „Rechtsnachfolger“ der ehemaligen Sektion Marxismus/Leninismus an den Universitäten Rostock und Greifswald, die Sektion Lateinamerikanistik in Rostock sowie die militärmedizinische Sektion in Greifswald. Der Wissenschaftsminister Brandenburgs, Hinrich Enderlein (SPD), kündigte das Ende für die Akademie Staat und Recht in Potsdam an.
Aber mit dem Schließen vieler wissenschaftlicher Einrichtungen wird eher zum administrativen Kahlschlag der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft ausgeholt als gemeinsam nach einem Neuanfang in den neuen Ländern gesucht. Das Mißtrauen gegenüber alten Kadern, die noch in vielen Bereichen amtieren, ist berechtigt. Zu wenig reformistische Bestrebungen kamen bisher aus den Hochschulen selbst. Dabei mahnten oft nur die Studenten Auseinandersetzungen mit „belasteten Kadern“ an. Außerdem zweifeln sie an der fachliche Qualifikation ihrer bisherigen Lehrkräfte hinsichtlich völlig veränderter Lehrstoffe. Schließlich wollen sie in einigen Jahren mit anerkannten Abschlüssen auf den Arbeitsmarkt gehen.
Doch die Liquidierung bestimmter Hochschulbereiche und Einrichtungen kann nicht die Lösung für eine neue Hochschulpolitik in den fünf Bundesländern sein. Von diesen Entscheidungen unmittelbar Betroffene bleiben ohne Mitspracherecht außen vor. Die vielen Konzepte zur inhaltlichen und personellen Veränderung bleiben auf der Strecke. Die Autonomie der Universitäten wird bis auf ein Mindestmaß reduziert, wenn — wie in Berlin vorgesehen — Politiker der Landesregierung über Neueinstellungen von Wissenschaftlern entscheiden. Das dafür sogar Gesetzesänderungen angestrebt werden, könnte auf Jahre hinaus eine Zementierung solcher Verhältnisse in der Hochschulpolitik bedeuten. Verständlich allerdings auch die Angst der West-Politiker, sich bei der Übernahme von Wissenschaftlern vielleicht Leute in Stellungen auf Lebenszeit zu holen, die als ehemalige Systemstützen nun auch noch staatlich sanktioniert weiterlehren dürfen. „Hier wird die Grauzone des Rechts ausgenutzt, um eine staatsnahe Hochschule aufzubauen“, befürchtet der Prorektor der Humboldt-Uni, Ullrich Reinisch. anbau/baep
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