Missbrauch in Haasenburg-Heimen: Leider verjährt
Mehrere Verantwortliche der Haasenburg-Heime stehen vor Gericht. Aber viele Vorwürfe sind verjährt – weil oberflächlich ermittelt wurde.
Insgesamt hat es in bis zu 50 Fällen Ermittlungen gegen Erzieher in den drei Heimen gegeben. Protokolle, die der taz vorliegen, zeigten etwa, dass zwei Mädchen von Betreuern der Arm gebrochen wurde. Jugendliche wurden auf Liegen festgeschnallt. Das Mädchen Lena*, das 2008 aus dem Fenster stürzte und starb, war zuvor gezwungen worden, Helm, Knie- und Armschützer zu tragen.
Wie steht es nun mit der juristischen Aufarbeitung dieser Vorfälle? Werden die Verantwortlichen vor Gericht gestellt?
Bislang scheint es so, als ob die Cottbusser Staatsanwaltschaft nicht vorhabe, weitere Strafverfahren zu eröffnen: „Wir haben die Masse der Verfahren jetzt abgearbeitet“, sagt Petra Hertwig, Oberstaatsanwältin und Sprecherin der Cottbusser Staatsanwaltschaft. „Weitere Anklagen haben wir nicht.“ Begründung: In manchen Fällen habe es zwar durchaus den Tatvorwurf der Körperverletzung gegeben, diese Fälle seien aber verjährt, da solche Delikte binnen fünf Jahren nach der Tat vor Gericht kommen müssten.
In drei Brandenburger Erziehungsheimen der Haasenburg GmbH waren bis Ende 2013 Hunderte Jugendliche aus ganz Deutschland untergebracht.
Die Behörden schlossen die Einrichtungen, nachdem eine Untersuchungskommission der Brandenburger Jugendministerin Martina Münch (SPD) gravierende Mängel im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen festgestellt hatte.
Den Anstoß zu diesem Schritt hatten erst Enthüllungen der taz aus dem Juni 2013 gegeben. Dabei waren autoritäre Erziehungsmethoden in den geschlossenen Häusern ans Licht gekommen: So waren einige der Kinder und Jugendlichen stundenlang festgebunden oder mit schmerzenden Polizeigriffen auf dem Boden festgehalten worden.
Ende 2013 bestätigten zwei Gerichte die Schließung im Eilverfahren. Begründung: Das Wohl der Kinder sei dort nicht gesichert.
Die Firma Haasenburg GmbH verklagte die taz vor dem Pressegericht: Den Prozess gewann die taz. (kaj)
Eine längere Verjährungsfrist – zehn Jahre – besteht beim Vorwurf der „Misshandlung von Schutzbefohlenen“. Dafür müsse man „die Überschreitung der Grenze zum richtigen Quälen nachweisen“. Dies habe man nicht belegen können. Um Anklage zu erheben, brauche man eine Verurteilungschance von 51 Prozent. Hertwig: „Die haben wir nicht.“
Das sehen allerdings nicht alle Juristen so: Der Hamburger Anwalt Carsten Gericke etwa ist überzeugt, dass die Staatsanwaltschaft Cottbus nicht alles getan hat, um den Fall seines 19-jährigen Mandanten Philipp Sandmann* aufzuklären.
Gericke reichte im August dieses Jahres Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die zuständige Staatsanwältin ein. Seine Kritik: Bei den Ermittlungen der Cottbusser Behörde seien nicht einmal Zeugen vernommen wurden. Die Akten lagen vor „und es passierte nichts“, sagt er.
Im Sinne dieser Norm
Philipp Sandmann kommt zwölfjährig in eines der Haasenburg-Heime, weil die Mutter mit dem Kind überfordert ist. Er erinnert sich an die Zeit mit Schaudern. Wie Lena* wird er gezwungen, Helm, Knie- und Armschützer zu tragen – auch in der Nacht.
Als Philipp 13 Jahre alt ist, wird er regelmäßig von mehreren Erwachsenen wie ein Terrorist auf den Boden gedrückt. Sie drehen ihm die Arme auf den Rücken, bis er vor Schmerzen schreit. Seine Mutter Esther Sandmann* sagt: „Ich habe das aufgeschürfte Gesicht bei einem Besuch gesehen.“
Im August 2013 stellt sie Strafanzeige. Anfang April 2015 erhält sie von der Staatsanwaltschaft den Bescheid, dass das Verfahren eingestellt wird, die Vorwürfe seien verjährt. Anwalt Gericke legt Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft in Cottbus ein: „Aus den Akten ergeben sich für mich keine sachlichen Gründe, die erklären, warum das Verfahren nicht gefördert wurde und warum die Ermittlungen nicht vor Beginn der Verjährung abgeschlossen werden konnten“, sagt er. Die Ermittlungen seien „höchst oberflächlich“ betrieben worden und wiesen „erhebliche Lücken“ auf, sagt er.
Nicht nur im Fall Philipp, sondern auch bei anderen Einstellungsbescheiden geht die Staatsanwaltschaft nach taz-Recherchen offenbar nach einem Muster vor: Sie prüft zuvorderst auf das schwer belegbare Delikt der „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ nach Paragraf 225 Strafgesetzbuch. Die Hürden dafür sind nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hoch. In einem Einstellungsbescheid vom März 2015 heißt es etwa: „Ein Quälen im Sinne dieser Norm ist nämlich die Verursachung länger andauernder oder sich wiederholender Schmerzen oder Leiden.“ Schmerzen, Hautabschürfungen und Hämatome reichten nicht aus, „um die Voraussetzung des Quälens zu bejahen“.
Aussage gegen Aussage abgeglichen
Die frühere Ministerin Martina Münch sieht das wohl anders. Sie hat sich bei den Kindern entschuldigt, nachdem ein Untersuchungsbericht die Zustände in den Heimen der Firma dokumentiert hatte. Diese Einrichtungen seien „überwiegend von überzogenen, schematischen und drangsalierenden Erziehungsmaßnahmen auf Kosten der dort untergebrachten Jugendlichen geprägt“ gewesen. Die Jugendlichen hätten „nicht nur die Erfahrung gemacht, dass sie jederzeit Opfer von Übergriffen werden konnten – sie haben auch die Erfahrung machen müssen, dass man ihnen hinterher nicht glaubt.“
Auch Philipp musste immer wieder erleben, dass man ihm nicht glaubt. Die Polizei vernimmt ihn im November 2013, Nachvernehmungen gibt es nicht. Der Junge berichtet von vielen Körperverletzungen und Nötigungen. 14 Mitarbeiter benennt er mit Namen, zahlreiche ehemalige Heimbewohner führt er als Zeugen auf. Die Ermittler der Staatsanwaltschaft vernehmen keine von ihnen.
Aus rund 50 Ermittlungen gab es bislang drei Anklagen gegen ehemalige Erzieher der Haasenburg: Am 19. Januar 2015 wurde ein Betreuer wegen sexueller Handlungen an einer 15-Jährigen Insassin zu anderthalb Jahren auf Bewährung und 1.000 Euro Strafe verurteilt. Am 24. März wurde ein Betreuer – angeklagt, einem Jugendlichen mit dem Ellbogen an den Kopf geschlagen zu haben – freigesprochen. Das Gericht glaubte dem Jungen nicht. Am 8. Dezember steht ein 33-jähriger Betreuer vor Gericht. Er soll im Frühjahr 2013 mit einer „knapp 18-Jährigen“, so das Gericht, sexuelle Handlungen durchgeführt haben. (kaj)
Innerhalb von 14 Monaten, in der die Behörden die Akten auf dem Tisch haben, beschränken sich die Ermittlungen offenbar darauf, Philipps Aussagen mit den von der Haasenburg GmbH herausgegebenen Dokumenten abzugleichen. Zudem informiert die Cottbusser Behörde keinen einzigen der Beschuldigten darüber, dass gegen sie ermittelt wird. Wäre dies geschehen, wäre die Verjährung „unterbrochen“ gewesen.
Ein Einzelfall? Anwalt Gericke regt in seiner Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die zuständige Staatsanwältin an, die Generalstaatsanwaltschaft möge prüfen, wie viele weitere Verfahren aus dem Gesamtkomplex Haasenburg GmbH von der Juristin wegen einer zwischenzeitlichen Verjährung und mangels hinreichender Förderung des Verfahrens eingestellt wurden. Die Dienstaufsichtsbeschwerde prüft daraufhin der leitende Oberstaatsanwalt in Cottbus, der schon bisher die Arbeit der Kollegin verantwortet. Gefragt, warum in manchen Fällen keine Zeugen vernommen wurden, sagt dessen Sprecherin Hertwig: „Wenn keine Straftat vorliegt, brauche ich nicht zu vernehmen.“ Gefragt, wie viele Verfahren wegen Verjährung eingestellt wurden, heißt es aus Cottbus, man habe noch keine Übersicht. Die soll bis Jahresende kommen.
Ohne Vorsatz gehandelt?
Allerdings hat die Staatsanwaltschaft nach Ansicht von Philipps Anwalt einen Paragrafen übersehen: Fünf Vorfälle, bei denen Philipp von mehreren Betreuern mit Polizeigriff auf dem Boden festgehalten wurde, erfüllen laut Gericke den Tatverdacht der „gemeinschaftlichen Körperverletzung“. Die verjährt erst nach zehn Jahren.
Im Oktober weist die Generalstaatsanwaltschaft die Beschwerde zurück. In ihrer Begründung übernimmt sie kommentarlos die Stellungnahme der Cottbusser Staatsanwaltschaft: Die Erzieher hätten ohne Vorsatz gehandelt. Philipp habe „Fehlverhalten“ gezeigt, er sei „beleidigend und aufbrausend“ gewesen. Auch die geschilderten Verletzungen bei Philipp erschienen der Staatsanwaltschaft „bei der Anwendung des sogenannten Polizeigriffs durchaus nachvollziehbar“. Und weiter: „Dies alleine reicht jedoch nicht aus, um einen hinreichenden Tatverdacht wegen gefährlicher Körperverletzung zu begründen, da ein vorsätzliches Verhalten nicht ersichtlich ist. Es ist daher insoweit auch von der Vernehmung der Beschuldigten oder weiterer Zeugen abgesehen worden.“
Haben die Erzieher also „ohne Vorsatz“ gehandelt? Tobias Singelnstein, Juniorprofessor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der FU Berlin, hält diese Argumentation für abwegig. Er sagt: „Wer eine andere Person bewusst körperlich misshandelt, beispielsweise indem er ihr schmerzhaft den Arm umdreht, erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung. Der Vorsatz ist in so einem Fall klar gegeben.“
Ist diese Körperverletzung ausnahmsweise gerechtfertigt? Polizisten dürfen unter bestimmten Voraussetzungen solche Griffe anwenden, Mitarbeiter der Psychiatrie auch. Aber: Mitarbeiter der Jugendhilfe dürfen es nach dem Gesetz nicht.
Nach Ansicht von Hannelore Häbel, Rechtswissenschaftlerin der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, zeugt auch die Auffassung, dass ein etwaiges „Fehlverhalten“ körperliche Übergriffe rechtfertigen würde, von mangelhaftem Rechtsverständnis. „Gewaltsames Niederringen zu Erziehungszwecken ist vom Gesetz nicht gedeckt“, sagt sie. „Ein Kind hat das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.“
Für die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Cottbus, Petra Hertwig, ist das Strafrecht „zur Aufarbeitung dieser Angelegenheit nicht geeignet“. Man müsste andere Wege finden, „um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen oder Genugtuung“. Immerhin spricht sie von Opfern.
* Name geändert
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