„Mir gefällt mein Geburtsdatum“

„Ich war zum Beispiel nicht im Kindergarten, sondern im Kinderladen. Soll heißen, ich bin selbst ein Produkt der 68er. In meiner Kindheit waren die 68er die Normalität. Alles andere war das Unnormale. Die Spießer“

Lange Zeit galt sie als Berliner Szeneautorin. Doch mit ihrem 2002 erschienenen Roman „Himmelskörper“ überraschte Tanja Dückers die Kritiker. Eine Familiengeschichte, die Flucht und Vertreibung thematisiert – die 1968 in Westberlin geborene Autorin stand plötzlich für eine neue Ernsthaftigkeit in der Literatur. Stimmt das? Und wie steht es um Dückers’ neuen Roman „Der längste Tag des Jahres“? Vor allem aber: Welche Rolle spielt Berlin in den Büchern und im Leben von Tanja Dückers? Die Autorin spricht über 68er, Enkel und Großeltern und die besondere Lage Berlins zwischen Ost und West. Und sie erklärt, was ihre Leidenschaft für Wüstenspringmäuse mit ihrem Buch zu tun hat.

taz: Frau Dückers, haben Sie Ihren Mann bereits überzeugen können?

Tanja Dückers: Wovon?

Davon, sich ein Terrarium zuzulegen.

Ja, allerdings mit der Auflage, dass ich mich darum kümmere. Es wird auch mein Job sein, zu sehen, wer während unserer vielen Abwesenheiten die Dinger füttert. Aber ich bin schon zum Waran-Fan mutiert.

Was kommt da sonst noch rein?

Ich hab Wüstenspringmäuse sehr gern. Und Chamäleons. Mal gucken, wie die sich so vertragen.

Keine Erfahrung?

Ich hatte als Kind ein Terrarium. Aber nur mit kleinen Molchen und Salamandern. Keine größeren Warane. Aber schon die sind nachts ausgebrochen. Man kann da wirklich Überraschungen erleben. Ein anderer Punkt ist die Reproduktion. Wie verhindert man, dass man plötzlich zwanzig Wüstenspringmäuse hat und nicht mehr zwei?

Die Wüstenspringgäuse vermehren sich lieber als die Deutschen?

Acht bis zehn Junge pro Wurf. Und alle vier Monate ein neuer Wurf.

Könnten Wüstenspringmäuse schreiben, würden ganz andere Familienromane entstehen.

Die müssten auch schneller geschrieben, lektoriert und gedruckt werden – ein ganz anderer Durchlauf.

Woher die Idee mit dem Terrarium? Um sich die Wüste, um die es in Ihrem neuen Roman „Der längste Tag des Jahres“ auch geht, ins Wohnzimmer zu holen?

Wüstentiere, oder besser exotische Tiere, waren für mich ein Symbol für deutsches Fernweh und die deutsche Sehnsucht nach weit entfernten Paradiesen in der grauen Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine Zeit, die im imaginären Zentrum meines neuen Romans steht. Es ist nicht die Zeit, in der berichtet wird, das geschieht in Rückschauen. Aber die 50er-Jahre bilden den Nukleus, um den sich diese Familiengeschichte dreht. Eine Szene zum Beispiel spielt mitten im kriegszerstörten Nürnberg, wo der Vater bei vernagelten Fensterscheiben vor seinem Terrarium sitzt. Das Terrarium also auch als ein Stück Biedermeierei, Kleinbürgertum, Weltflucht. Aber es hat auch einen liebenswerten Aspekt.

Sie haben für den Roman in einer Berliner Zoohandlung recherchiert. Wie war das?

Ich habe eine ganze Reihe Zoohandlungen besucht – von Weißensee bis Neukölln. Die Inhaber waren meist sehr redselig; ich tauchte ein in ihre Welt wie in ein Paralleluniversum. Mich hielten plötzlich Waran-Wehwehchen und Chamäleon-Zipperlein in Atem. Die Zootierliebe scheint beim Homo berolinensis sehr ausgeprägt.

Im Roman selbst spielt Berlin aber eine Nebenrolle.

Warum nicht? Es muss ja nicht jedes Mal die Handlung meiner Bücher in Berlin angesiedelt sein. Berlin kommt aber auch vor. Das Buch handelt ja von fünf Geschwistern, die an fünf verschiedenen Orten die Nachricht erhalten, dass ihr Vater gestorben ist. Einer der Söhne ist nach Berlin gegangen.

Für Sie selbst spielt Berlin eine Hauptrolle. Sie sind 1968 in Westberlin geboren. Das ist ein symbolisches Datum.

Ich bin mit meinen Geburtsdatum sehr zufrieden. Mir hat das immer gut gefallen. Beides zusammen, 1968 und Berlin, das ist schon fast eine Aussage. Berlin hat mich aber auch anderweitig geprägt – als schmuddelig-melancholische Proletarier- und Künstlerstadt. Außerdem schien mir, dass die Spuren des Krieges hier viel länger sichtbar waren – und sind – als in Westdeutschland.

Sie sind in Wilmersdorf geboren, damals noch ein beliebter Wohnort für die 68er-Aktivisten. Wann haben Sie zum ersten Mal bewusst 68 als Bewegung wahrgenommen?

Über meine Eltern und deren Umfeld. Ich war zum Beispiel nicht im Kindergarten, sondern im Kinderladen. Soll heißen, ich bin selbst ein Produkt der 68er. In meiner Kindheit waren die 68er die Normalität. Alles andere war das Unnormale. Die Spießer.

Das hört sich ja gruselig an.

Ich hatte das Glück, in einem moderaten 68er Elternhaus aufzuwachsen. Bei uns gab es keine ausgehängten Türen, man konnte allein aufs Klo gehen. Meine Eltern haben auch keine wilde Ehe geführt. Sie haben nicht den polygamen Riesenhaushalt gehabt.

Und das hat Sie davor bewahrt, heute eine entschiedene Anti-68erin zu sein?

Genau. Ich bin eher eine wohlwollend nachsichtige 68er-Befürworterin-Kritikerin.

Wer hat das so genannt?

Ich. Gerade eben. Was ich damit sagen will: Ich bin nicht im radikalen politischen Umwelt aufgewachsen, sondern in einem Künstlerumfeld. Meine Eltern sind Kunsthistoriker. Und in diesem Umfeld von linken Galeristen, Malern, Theater- und Museumsleuten bin ich groß geworden.

Die Westberliner Insel.

Die immer wieder schön war, wenn wir von unseren Besuchen aus Westdeutschland zurückkamen.

Wie haben Sie den Mauerfall erlebt? Als Verlust, wie er in Sven Regeners Buch Herr Lehmann beschrieben ist, oder als Zugewinn?

Als absoluten Zugewinn. Vielleicht bin ich auch nicht so ein Nörglermensch. Ich habe nie verstanden, wie man den Mauerfall ablehnen konnte, um sein kleines Kreuzberger Ghetto zu behalten. Nur, damit da bloß nicht ein paar Ossis reinschlappen. Heute besteht mein Freundeskreis ganz selbstverständlich aus Wessis und Ossis. Auch das ist ein Zugewinn, wie man ihn vielleicht nur in Berlin erleben konnte.

Zu diesem Zugewinn gehört auch eine ganz andere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Auch der in der eigenen Familie. Worin unterscheidet sich diese Auseinandersetzung von der der Elterngeneration?

Wir gehören nicht zur Zeitzeugengeneration, aber das hat auch Vorteile. Wir haben mehr historische Distanz, sind nicht so involviert. Haben keine blinden Flecken in der Wahrnehmung. Das gibt uns auch die Möglichkeit, vieles anzusprechen, couragierter aufzutreten, ohne gleich ein Familiengefüge zu zerstören. Dazu kommt, dass wir die Generation sind, die, um es mal pathetisch zu formulieren, das Erinnern nun in einem europäischen Kontext betreiben muss und betreibt.

War die Generalanklage der 68er an ihre Eltern richtig oder nicht?

Ja, sie war richtig. Es war richtig, mit dieser Kontinuität von Nazikarrieren in der Bundesrepublik aufzuräumen. Das musste thematisiert werden, selbst wenn es den eigenen Vater betraf.

Es hat aber die Zeitzeugengeneration zeitweilig zum Verstummen gebracht.

Die Frage ist, ob sie andernfalls gesprochen hätte. Das bezweifle ich. Dass viele jetzt reden, hat nicht damit zu tun, dass sie von ihren Enkeln sanfter befragt werden, sondern auch, weil sie ihr Leben bilanzieren. Da kann man auch Fehler eingestehen, was mit Mitte 40 und mitten im Berufsleben vielleicht nicht geht. Oder aussprechen, was man über viele Jahre hinweg verdrängt hat. Hinzu kommt, dass Enkel und Großeltern meist leichter in den Dialog treten können als Kinder und Eltern. Es ist also nicht die Schuld der 68er Generation, dass deren Eltern nicht gesprochen haben.

Vieles von dem, was Sie hier ansprechen und was Sie und andere Autoren in ihren Büchern verhandeln, also auch Flucht und Vertreibung, wird in Polen als Beleg für eine Umdeutung des deutschen Erinnerns gesehen. Weg vom Täter- hin zum Opfervolk.

Ich kann diese Ängste verstehen. Zum Teil sind sie auch berechtigt. Auch in Deutschland herrscht eine nationale und keine europäische Erinnerung vor. Wir wissen sehr wenig über unsere Nachbarn, vor allem über Polen. Und dann ist es so, dass die beiden Erinnerungsstränge in Deutschland nicht immer zusammenpassen. Da ist zum einen die offizielle Erinnerung, wie sie sich in Politikerreden und Mahnmalen präsentiert. Sie besagt: Wir entschuldigen uns als Kollektiv. Im individuellen Erinnern dagegen stehen inzwischen die Opfergeschichten im Vordergrund. Gerade bei Jüngeren führt das oft dazu, dass sie der offiziellen Erzählung skeptisch gegenüber stehen. Da gibt es einen Rechtsruck.

Auf der anderen Seite führt die Auseinandersetzung der Enkel mit ihren Großeltern geradewegs nach Polen und die Auseinandersetzung mit der Geschichte dort. Wie war das bei Ihnen?

Mein Weg nach Polen hat wieder viel mit meiner Mutter zu tun, die in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft ist, in einem Deutsch-Polnischen Chor singt, Polnisch spricht und viele polnische Freunde hat. Da war es für mich viel einfacher, mich diesem Land anzunähern als für jemand anderen. Der zweite Weg führte mich über ein Stipendium nach Krakau. Und dann ist man ja auch in Berlin Polen recht nah. Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist die: Auch wenn es in der offiziellen Politik Verstimmungen gibt, auf der menschlichen Ebene ist die Neugier sehr groß. Auch die Neugier in Polen auf Deutschland und speziell auf Berlin.

Sie waren in den vergangenen Jahren sehr oft im Ausland, nicht nur in Polen, auch in Barcelona und in den Vereinigten Staaten. Sind Sie denn jetzt wieder ein Stück nach Berlin zurückgekehrt?

Ich habe Berlin nie wirklich verlassen. Die ganze Zeit, in der ich im Ausland gelebt habe, habe ich eine Wohnung in Berlin behalten. Berlin war schon immer der Ausgangspunkt meines Reisens, meines Lebens, meines Blicks auf die Welt. Von dieser Stadt als Schnittstelle der einstigen bipolaren Weltordnung aus kann man wunderbar auf den Westen und die USA schauen und versuchen sie zu verstehen. Und das gleiche gilt für Osteuropa.

Ihr neuer Roman wird ein Berlin-Roman werden, genauer ein Roman über Westberlin. Westalgie oder 68er-Bashing wird es nicht werden. Was dann?

Es ist ein Buch über die 68er in Berlin und das, was davon übrig geblieben ist. Und über den Zwitterstatus, den Westberlin vor der Wende hatte, dieses eigentümliche Konstrukt.

Wird das wieder ein Familienroman werden?

Es ist eine Zweigenerationenperspektive – eine Heranwachsende in Westberlin und deren Eltern. Aber wir könnten zur Abwechslung ja mal die Schublade Bildungsroman aufmachen.