: Milliardenpoker um Entschädigung
■ Bei den Entschädigungsverhandlungen für NS-Zwangsarbeiter durch die deutsche Wirtschaft liegt erstmals ein konkretes Angebot auf dem Tisch – allerdings nicht öffentlich
Berlin/New York (rtr/dpa) – Vor der möglicherweise entscheidenden Verhandlungsrunde über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern am morgigen Mittwoch und Donnerstag in Washington, bei der es erstmals um eine konkrete Summe gehen soll, übt sich die deutsche Seite in absoluter Diskretion. Der Kanzlerbeauftragte Otto Graf Lambsdorff lehnte es ab, öffentlich eine Summe zu nennen, mit der die Bundesregierung und die deutsche Wirtschaft ehemalige NS-Zwangsarbeiter entschädigen wollen. In Lambsdorffs Umfeld hieß es gestern, Lambsdorff plane wie angekündigt, am späten Nachmittag dem US-Unterhändler Stuart Eizenstat telefonisch eine konkrete Zahl zu übermitteln. In deutschen Verhandlungskreisen war bislang die Rede von einem einstelligen Milliarden-Mark-Betrag im „mittleren Bereich“ die Rede gewesen.
Spekulationen, wonach dieser Betrag acht Milliarden Mark betragen könnte, waren in deutschen Verhandlungskreisen zuletzt zurückgewiesen worden. Der Betrag sei zu hoch. Offenbar wird eher an eine Summe von vier bis sechs Milliarden Mark gedacht. Die Summe liegt zwar über den Beträgen, an die die deutsche Wirtschaft zunächst gedacht hatte, aber weit unter den Forderungen von US-Opferanwälten, die 20 Milliarden Dollar und mehr verlangt hatten. In deutschen Kreisen hieß es, bei der von Lambsdorff zu nennenden Summe gebe es nicht mehr viel Verhandlungsspiel nach oben: „Das ist ein im Prinzip gedeckelter Betrag.“
Der Münchner Opferanwalt Michael Witti forderte gestern eine Entschädigungssumme von deutlich über zehn Milliarden Mark. „Meiner Einschätzung nach haben viele noch nicht begriffen, dass die Entschädigung für die Arisierung ehemals jüdischer Banken noch einmal mindestens genauso hoch sein muss.“ Der Sprecher des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, Lothar Evers, sagte, dass die Entschädigung pro Opfer bei wenigstens 10.000 Mark liegen müsste. Er verwies darauf, dass nach einem Vergleich vor dem Landgericht Stuttgart ein Zwangsarbeiter 15.000 Mark allein an Lohn fordern könnte. In jedem Fall müsse eine Summe herauskommen, die eine „echte Genugtuung“ darstelle.
Unterdessen haben jüdische und polnische Organisationen Daimler-Benz in einer ganzseitigen Zeitungsanzeige angegriffen. Unter der Überschrift „Daimler-Benz – Design. Leistung. Zwangsarbeit“ werfen sie dem Unternehmen in der New York Times vor, zehntausende Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg ausgebeutet zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen