Mikrokredite für Frauen: Hilfe oder Henkerstrick?
Mikrokredite bieten Frauen einen Weg aus Abhängigkeit und Armut, heißt es. In Bolivien aber gilt das längst nicht für alle.
M it leerem Blick und krummem Rücken starrt Tatiana Quispe* auf den Boden. Die kräftige Frau, 43 Jahre alt, zwei geflochtene Zöpfe, ausladender Faltenrock, sitzt auf einem winzigen Klapphocker. Etwa 25 Zentimeter trennen sie von dem Ruß- und Staubbedecktem Großstadtboden. Hinter ihr rauschen Autos und Minibusse vorbei, vor ihr drängen sich Männer und Frauen durch die enge Passage, die zwischen Quispe und der nächsten Hauswand bleibt. Um sie herum eine Kakophonie aus Kindergeschrei, Hundegebell und Hupenlärm. Nur sie scheint still, wie eingefroren, an ihrem Arbeitsplatz, auf einem Quadratmeter Bürgersteig, in einem Geschäftsviertel von Boliviens Hauptstadt La Paz.
Vor Quispe stehen zwei randvolle Tragetaschen. Darin in Plastik verpackte Trockenware: Pulvermilch, Nüsse, Zucker, Mehl. Die bietet sie zum Verkauf. Sie hätte ein Tuch dabei, um sie darauf auszubreiten, aber Quispe ist auf der Hut. Das Ordnungsamt könnte jeden Moment auftauchen, dann muss sie rennen. Eine Stammkundin bleibt stehen, Quispe kramt eine Packung Kekse aus der Tasche. Am unteren Rand eine rote Aufschrift:„Verkaufen verboten“.
Das, womit Quispe seit ein paar Jahren ihren Lebensunterhalt für sich und vier Kinder verdient, gilt dem Staat als informell und illegal. Weil sie keine Steuern zahlt und weil sie subventionierte Produkte verkauft, die eigentlich Frauen mit Babies helfen sollen, über die Runden zu kommen. Doch auch die verkaufen diese Produkte an Frauen wie Quispe, weil sie das Geld brauchen, um Rechnungen zu zahlen oder Schulden zu begleichen.
Quispe verdient im Monat 2.000 Boliviano, umgerechnet knapp 260 Euro. Damit liegt sie knapp unter dem gesetzlichen Mindestlohn. In guten Wochen, wenn es nicht regnet und die Leute „aus den großen Häusern“ bei ihr stehen bleiben, um Produkte abzugreifen, die im Supermarkt etwa das Doppelte kosten. Aber Quispe kann ihren Job nicht leiden. Er sei unehrlich, sagt sie. Ende 2018 fasst sie deshalb einen Plan: Ein Mikrokredit soll ihr ihren Traum vom eigenen Geschäft erfüllen. Sie ahnt nicht, dass dieser Mikrokredit noch großes Unheil über ihr Leben bringen wird.
Die Verwundbarkeit der Frauen
Eigentlich sollen Mikrokredite genau das Gegenteil tun. Sie sollen Menschen mit den niedrigsten Einkommen dazu verhelfen, sich selbst zu verwirklichen, sich etwas aufzubauen. Weil Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft besonders von Armut und Abhängigkeit gefährdet sind, hat sich vor 30 Jahren in La Paz’ Nachbarstadt El Alto eine NGO gegründet, die vor allem alleinstehende Frauen unterstützen soll. „Promujer“, zu deutsch „Für Frau“ vergibt heute in sechs Ländern Lateinamerikas vor allem Mikrokredite an Solidargemeinschaften zwischen acht und 30 Mitgliedern, die für einander einspringen, wenn ein Mitglied seine Quote nicht zahlen kann. Kapital oder weitere Bürgen werden nicht gebraucht. Über zwei Millionen Frauen nahmen 2018 an dem Mikrokreditprogramm teil, davon 123.000 in Bolivien, die Tilgungsrate lag bei 90,2 Prozent.
Sonia Aguayo, Promujer
Zahlen, die Sonia Aguayo mit Stolz erfüllen. Die stellvertretende Leiterin, 49 Jahre alt, führt an einem Donnerstagmittag Ende Februar durch ihre Filiale in El Alto. Das Gebäude gleicht einem Ameisenhaufen. Auf allen vier Stockwerken laufen in rote Promujer-Westen gekleidete Kreditvergeber_innen umher und bringen Dokumente von Büro A nach Büro B. Auf den Wartestühlen davor sitzen Frauen mit Babies in Tragetüchern und Kindern an der Hand. Eine Solidargemeinschaft kämpft sich in den letzten Stock, ihre aufgeregten Stimmen hallen durch das Treppenhaus, sie kommen zur Vertragsunterzeichnung.
Aguayo führt in einen bestuhlten Raum mit kahlen Wänden. Hier finden für jede Kreditgruppe einmal im Monat zum Zahltag Bildungsvorträge statt. Businesspläne, Gesundheit oder Selbstermächtigung seien Themen, die dort besprochen werden, sagt Aguayo. Sie hat eine warme, ruhige Stimme und wirkt wie jemand, dem man gerne sein Vertrauen schenkt. Vor 14 Jahren habe sie bei Promujer angefangen, als Anwerberin auf der Straße. Dort habe sie gelernt, was den Frauen am meisten fehle und was sie wirklich bräuchten. „Es gibt neben der physischen auch viel ökonomische Gewalt gegen Frauen. Viele Männer hier denken noch immer, den Lebensunterhalt der Familie dürften nur sie bestreiten. Sie haben Angst vor der Unabhängigkeit ihrer Frauen“, sagt sie.
Erfolgsrezept Mikrokredit
Eine Kundin von Promujer, die sich von ihrem Partner unabhängig gemacht hat, ist Cristina Mamani. Aufrecht und mit wachen Augen sitzt die 54 Jahre alte Frau auf einer Holzbank in einem etwa 10 Quadratmeter-großen Zimmer am Stadtrand von El Alto. Ihr Blick ist auf die Häkelnadel in ihrer rechten Hand geheftet, die tanzend einen blassgelben Wollfaden zu Schlaufen zieht. Drei Hundewelpen in einem Karton unter ihr winseln leise. Ansonsten herrscht Ruhe, an ihrem Arbeitsplatz, an dem sie isst, fernschaut oder schläft, wenn sie nicht gerade häkelt.
Vor 25 Jahren lädt sie eine Freundin zu ihrer Solidargemeinschaft bei Promujer ein. Das kommt ihr gelegen, denn es geht ihr nicht gut. Mit ihrem Partner versucht sie seit Jahren vergeblich, ihr Ladengeschäft zum Laufen zu bringen: Tischlerei, Zierfischhandel, Druckerei für Hochzeitskarten. Es ist eng in dem Laden, der gleichzeitig ihre Wohnung ist. Der Vater ihrer kleinen Tochter vertrinkt nach Feierabend die Einnahmen, Mamani wird nochmal schwanger, doch im neunten Monat verliert sie das Kind. Sie wird krank, psychisch und physisch, Depression und Gastritis. Sie flüchtet sich ins Häkeln. Häkelt um ihr Leben. Wickeltücher für ihr ungeborenes Kind. Ständig geht ihr die Wolle aus, dann erzählt ihr die Freundin von dem Kredit, und sie hat eine simple Idee, die ihrem Leben eine Wende geben wird: Wickeltücher verkaufen.
Mamani wird Mitglied und bald Vorzeige-Klientin von Promujer. Sie trennt sich vom trinkenden Partner und dem Pleite-Geschäft, zieht mit ihrer Tochter in eine eigene Wohnung, häkelt und häkelt, spart und spart. Alle 28 Tage trifft sie am Zahltag die Solidargemeinschaft zum Bildungsvortrag in der Promujer-Filiale. Anfangs seien sie 20 Frauen gewesen, heute sind es nur mehr acht. „Es gibt immer welche, die es nicht schaffen“ sagt sie, und mit dem Lächeln einer Siegerin fügt sie hinzu: „Aber ich zahle immer pünktlich“.
Erfolgsrezept mit Haken
Mayra Rojas geht es genau um jene Frauen, die es nicht schaffen, die auf der Strecke bleiben im Wettlauf um die eigene Solvenz. Rojas, 46 Jahre alt, hat sich einen Hauch von Regenbogen in die kurzen Haare färben lassen. Sie sitzt im knallbunten Café des feministischen Kollektivs „Mujeres Creando“, zu deutsch “Erschaffende Frauen“ in La Paz. Das 1992 gegründete Kollektiv ist wegen seiner provokanten Protestaktionen landesweit bekannt, und bei vielen verschrien, als „zu radikal, hysterisch, besessen“.
Seit 13 Jahren berät die Juristin hier halbtags ehrenamtlich Frauen, die sich mit einem Mikrokredit verrannt haben. Mayra sagt, hinter den wohlwollenden Mikrokrediten verberge sich ein gnadenloses Geschäft mit der Armut jener, die sich kaum wehren können, und jener, die in einer patriarchalen Gesellschaft am verwundbarsten sind: Frauen. 2010 haben sie und eine Ex-Ministerin für Entwicklung ein Buch darüber herausgebracht. Es ist ein 341-Seiten-Bollwerk voller Beispiele für faule Kredite mit überhöhten Zinssätzen und zahllosen Vorwürfen gegen ein perfides System.
Jede Woche kämen im Schnitt drei Frauen zu Rojas, weil sie ihre Kreditquote nicht zahlen können, sie sind verzweifelt, sie haben Angst. Die meisten von ihnen alleinerziehend, mit drei, vier, manchmal mehr Kindern. Drohungen, Denunziation und öffentliche Demütigungen seitens der Kreditinstitute würden ihr geschildert. Einmal sei sie von einer Frau, die sie beriet, angerufen worden: „Mayra, komm bitte her, sie lassen uns nicht mehr raus“.
Zwei Frauen der Solidargemeinschaft waren nicht zum Zahltag gekommen. Rojas fuhr zur Filiale von Promujer in El Alto, gab sich als eine der fehlenden Frauen aus. Drei Stunden hätten die Frauen bereits dort ausgeharrt, zwei von ihnen mit einem Baby und einem Kleinkind. Nochmal zwei Stunden später habe Rojas die Situation im Gespräch mit den Angestellten der Bank auflösen können. „Das ist Kidnapping!“, sagt Rojas mit lauter Stimme.
Das Grundproblem sei, dass die Kreditgeber sich nicht an die Regeln hielten. Viele Frauen würden vorher nicht ausreichend beraten, die meisten verstünden nicht, was in den Verträgen steht oder könnten diese nicht einmal lesen, später würden sie mit der Verwaltung ihrer Finanzen allein gelassen. Die zunächst gering erscheinenden Zinssätze von im Schnitt 2,9 Prozent monatlich seien trügerisch. Wenn man diesen Satz aufs Jahr hochrechnete, seien es die höchsten Zinssätze im Kreditwesen überhaupt.
Seit 2013 werden in Bolivien zwar alle kreditgebenden Institutionen stärker reguliert, um der Überschuldung zu begegnen. Doch das Gesetz sei „nur ein Stück Papier“, sagt Rojas. Das Kleingedruckte in den Verträgen sei so raffiniert formuliert, dass im Falle der wenigen Prozesse, zu denen es überhaupt komme, immer die Bank gewinne. Nicht selten fänden sich zwischen den kleinen Buchstaben höhere Zinssätze als gesetzlich erlaubt. „Diese Frauen haben keine Lobby“, sagt Rojas. Außer Mujeres Creando gebe es keine andere Organisation in Bolivien, die sich dem Problem annehme.
Sonia Aguayo von Promujer, konfrontiert mit den Vorwürfen, die Rojas ihrer Stiftung macht, reagiert überrascht, dann nachdenklich, dann abwehrend. Die Frauen von Mujeres Creando seien „sehr extrem in ihren Ansichten“. Und viele Frauen machten sich gebildete Menschen wie Rojas gezielt zu nutze, um von ihrer selbstverschuldeten Zahlungsunfähigkeit abzulenken. Wölfe im Schafspelz. Trotzdem schreibt sie sich den Titel der Mikrokredit-Streitschrift von Mujeres Creando auf.
Stolpern und Straucheln
Auch Tatiana Quispe, die stille Subventionsverkäuferin aus La Paz, hat sich von Rojas im Café von Mujeres Creando beraten lassen. Ihr Fall ist ein Paradebeispiel für einen misslungenen Mikrokredit. Als Quispe 2018 für einen Kredit entscheidet glaubt sie, den üblen Teil ihres Lebens schon hinter sich gebracht zu haben. Mit 18 Jahren wird sie zum ersten Mal schwanger, es folgen drei weitere Kinder. Ihr Partner schlägt sie und manchmal auch die Töchter. 25 Jahre lang. Ihr größter Streitpunkt ist, dass er nicht möchte, dass sie außerhalb von zu Hause arbeitet. Irgendwann schafft sie den Absprung. Ein Neubeginn. Sie lässt sich scheiden und macht einen Plan.
Ein individueller Mikrokredit, also ohne Solidargemeinschaft, soll Quispe auf festen Boden stellen. Ihr Vater bürgt. Mit den zwei Minibussen der Familie, mit denen Quispes Brüder wiederum ihren Lebensunterhalt verdienen. Gemeinsam gehen sie zu Banco Sol, der ersten staatlich regulierten Mikrobank Boliviens. Ihr Slogan: „Die Bank, die mit dir wächst“. Nach dem Beratungsgespräch vergehen keine drei Tage bis sie den Vertrag unterschreiben.
„Es ging alles so schnell“, sagt Quispe. 28.000 Bolivianos, 3.629 Euro, abzubezahlen jeden ersten Dienstag im Monat, bis Dezember 2022. Zu welchem Zinssatz weiß sie nicht. Aber an ihren Plan erinnert sie sich genau. Sie will einen Laden für gebrauchte Autoteile aufmachen. Sie habe einmal gehört, dass damit viel Geld zu machen sei. „Diesen Traum hatte ich schon immer, und ich habe ihn auch heute noch“, sagt sie.
Denn dann kommt alles anders. Quispes Geschäftsidee geht nicht auf. Zu hoch ihre Fixkosten, zu wenig Kapital, um überhaupt richtig anzufangen. Und dann sind da ihre vier Kinder, für die sie jeden Morgen um 6 Uhr das Mittagessen vorkocht, bevor sie in den Bus steigt, um zu ihrem Verkaufsplatz zu fahren. Ihr Leben geht weiter, wie die Zeit verrinnt auch das Geld. Hier eine feste Zahnspange für die jüngste Tochter, dort die Gebühren für die Ausbildung der Älteren. „Mama, ich brauche 1.000 Boliviano“, fragt eine der erwachsenen Töchter. Quispe kann nicht Nein sagen. Am Ende bleibt alles beim Alten, Quispe verkauft ihre Subventionsprodukte, Tag ein, Tag aus, gerade so schafft sie es, den Kredit samt Zinsen monatlich abzubezahlen. Bis im März 2019 etwas geschieht, das ihr fragiles Lebensmodell wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lässt.
Der freie Fall
Für Quispe ist es ein Tag wie viele andere. Routine. Sie muss Nachschub holen, bei den Frauen mit den kleinen Kindern und den Subventionen. Für die Angestellten des Ordnungsamts ist es ein besonderer Tag. Heute ziehen sie mit der Polizei los, um dem illegalen Treiben ein Ende zu bereiten. Quispe wird festgenommen. Ein Monat Hausarrest. Nur mit einer Genehmigung habe sie das Haus verlassen dürfen. „Ich habe mich wie eine Kriminelle gefühlt“, sagt sie kaum hörbar. Noch schwerer wiegen die finanziellen Folgen. Einen Monat lang kann sie nicht arbeiten gehen. Ein Anwalt, der sie vertreten soll, verlangt 5.000 Boliviano, knapp 650 Euro.
Der Kredit, der ihr Sicherheit und Stabilität bringen sollte, gräbt nun mit jedem Zahltag ein Stück mehr Boden unter ihren Füßen ab. Sie strauchelte schon bevor sie den Kredit aufnahm, nun scheint sie kurz vorm freien Fall. Quispe kommt seither nicht zur Ruhe. Einen von zwei Goldohrringen habe sie schon ins Pfandhaus gegeben, um die Kreditquote zu bezahlen, sagt sie mit gesenktem Blick und knetet ihr nacktes Ohrläppchen.
Der Druck ist immens. Zahlt sie nicht, verliert nicht nur sie den Boden unter den Füßen. Ihre gesamte Familie fiele mit ihr in den Abgrund von Armut und Schulden. Am 3. März ist für Quispe wieder Zahltag. Sie löst ihren zweiten Ohrring ein. Am Tag darauf sagt sie am Telefon ungewohnt hoffnungsvoll: „Diesmal war es richtig knapp. Aber ich bin schon so oft hingefallen, irgendwie stehe ich immer wieder auf“. Wieder bleibt ihr genau ein Monat dafür.
*Name von der Redaktion geändert
Die Recherche für diesen Text wurde vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie abgeschlossen.
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