Mietenprotest in Berlin: Mit Tweet und Topfdeckel
Nach Absage der großen Mietendemo wegen Corona demonstrieren Aktivist*innen und Betroffene am Samstag mit vielen Einzelaktionen – on- und offline.
Punkt 18 Uhr wird es plötzlich laut in der Lenaustraße in Neukölln. Menschen stehen an den Fenstern ihrer Wohnungen: Zwei Kinder trommeln mit Löffeln auf einen Topf, eine ältere Frau rasselt im schnellen Takt, Trillerpfeifen ertönen. Zackig biegen auf der sonst leeren Straße drei junge Menschen um die Ecke und rufen: „Hopp, hopp, hopp – Mietenstopp!“
Was eine Großdemonstration zum Schlagwort #Mietenwahnsinn hätte werden sollen, wurde ein dezentraler Aktionstag: im Netz, an Fenstern, vereinzelt auf den Straßen – und via besetzter Wohnungen.
Ein breites Bündnis mietenpolitischer Akteur*innen hatte an diesem Samstag unter dem Motto „Wohnen für Menschen statt Profite“ ursprünglich zehntausende Menschen zu einer Großdemo auf die Straßen bringen wollen. Im vergangenen Jahr hatten daran in Berlin laut Veranstalter etwa 40.000 Menschen teilgenommen, weitere 15.000 in 19 anderen deutschen Städten.
Weil die Demo aufgrund der Eindämmungsbestimmungen gegen das Coronavirus in diesem Jahr verboten wurde, stampften die Organisator*innen kurzfristig neue Pläne aus dem Boden: Onlineproteste zum #HousingActionDay2020 und ein zehnminütiges Lärmkonzert von Balkonen und Fenstern aus. Zu dem Protest gegen steigende Mieten und Verdrängung riefen europaweit Initiativen aus 54 Städten auf.
Motto des Aktionstags
„Wenn alle zu Hause bleiben sollen, brauchen alle ein Zuhause!“, lautete der den Umständen angepasste Aufruf des Mietenbündnisses. Damit die verschiedenen Mieten-Initiativen mit ihren geplanten Redebeiträgen trotz ausgefallener Demo zu Wort kommen, organisiert das Bündnis eine Video-Pressekonferenz im Internet.
„Corona verschärft die Situation obdachloser Menschen. Pfandflaschen können kaum mehr gesammelt, Zeitungen nicht mehr verkauft werden. Viele sind besonders gefährdet, sich anzustecken, und haben ein geschwächtes Immunsystem“, sagt dabei Frieder Krauß von der Berliner Obdachlosenhilfe. „Aber die Situation ließe sich lösen: Berlin sollte leere Hotelzimmer für Obdachlose zur Verfügung stellen.“ Zeitgleich besetzt das Bündnis #besetzen mehrere leere Wohnungen, um sie Obdachlosen bereitzustellen.
Neben der Beschlagnahmung leerstehender Ferienwohnungen fordert das Mietenbündnis eine Aussetzung von Mietzahlungen. Die Maßnahmen zum Mieterschutz, die vergangene Woche im Eiltempo von Bundestag und Bundesrat durchgewunken wurden sowie das vom Senat beschlossene Maßnahmenpaket gehen dem Bündnis nicht weit genug: „Das kann einigen Mieter*innen zwar erst mal helfen, aber der Staat ist nicht dafür da, die Gewinne von Immobilienkonzernen zu garantieren“, sagt Kim Meyer, eine Sprecherin des bundesweiten Mietenwahnsinn-Bündnis der taz.
Forderung nach einem Mietenstott
Der Berliner Senat hat am Dienstag ebenfalls ein Maßnahmenpaket für Berlin beschlossen. Um Mieter*innen zu schützen, sollen außerordentliche Kündigungen aufgrund von Mietrückständen ausgesetzt werden, nach Möglichkeit für einen längeren Zeitraum als nur bis Ende Juni. Mieten müssen nachträglich gezahlt werden. „Besser wäre es, Wohnungskonzerne zu vergesellschaften. Es braucht einen Mietenstopp“, so Meyer.
Sprecherin von DW Enteignen
„Abstand von Profiten statt Stundung der Mieten“, twitterte dazu der block89, ein Zusammenschluss von Mieter*innen aus sechs Kreuzberger Häusern des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen. Die Initiative Deutsche Wohnen enteignen, die einen Volksentscheid über die Enteignung großer Wohnkonzerne anstrebt, twitterte derweil Fotos von mehreren Dutzend Schuhen, die sich stellvertretend für Demonstrierende auf einer Brücke reihen: „Demo läuft! Wir sind heute (im Herz) Zehntausende auf den Straßen Berlins.“
„Die alte Diskussion, Mieten zu bestreiken, gewinnt coronabedingt wieder an Fahrt“, sagt eine Sprecherin des Bündnisses Zwangsräumung Verhindern bei der Pressekonferenz. „Ein Mietstreik birgt Risiken für Mieter*innen und muss politisch organisiert werden. Damit es ein gemeinsamer Kampf ist und nicht einzelne Menschen ihre Wohnung verlieren.“
Besonderen Schutz bräuchten nun Geflüchtete, fügt William Michel von Corasol hinzu, einer Gruppe von Menschen mit und ohne Flucht- oder Migrationserfahrung, die sich in Berlin und Brandenburg für Geflüchtete einsetzt. „Die Geflüchteten in Berlin leben häufig auf engem Raum“, so William. „Die Ansteckungsgefahr ist sehr hoch.“
Wie hoch Berlins Mieten sind, belegte jüngst der Wohnungsmarktbericht 2019 der Investitionsbank Berlin IBB. Demnach zahlten rund 40 Prozent der Berliner Haushalte im vergangenen Jahr mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens für Kaltmiete inklusive Betriebskosten. Im Speckgürtel Berlins wuchsen die Mieten besonders stark. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Mieten in Berlin mehr als verdoppelt. Auch die Bestandsmieten sind trotz Mietpreisbremse stark gestiegen. Das Einkommen steigt im Schnitt weitaus langsamer.
Viel los bei Twitter und Facebook
Kim Meyer, Bündnis Mietenwahnsinn
Rege beteiligten sich denn auch betroffene Mieter*innen und Netzaktivist*innen bei Twitter, Facebook und Instagram an den Aktionen. „H&M zahlt keine Mieten mehr – warum sollten wir?“, fragte ein Tweet mit dem Hashtag HousingActionDay2020.
Eine andere Person twitterte: „Mieter*innen sollten sich ein Bsp. an #adidas, @Deichmann & Co nehmen und einfach keine Miete zahlen. Sicher springt die Bundesregierung auch hier ein.“ Vergangene Woche hatten einige Firmen wie Adidas, H&M und Deichmann angekündigt, keine Miete mehr zahlen zu wollen.
„Es hat Spaß gemacht zu sehen, wie viele Leute Lust hatten, in Text und Bild dafür zu sorgen, dass am 28. März eben doch gegen Mietenwahnsinn protestiert wird“, zog Kim Meyer vom Mietenwahnsinn-Bündnis am Ende des Tages im Telefonat mit der taz Bilanz. „Mit unserem dezentralen Aktionstag haben wir nicht so eine große Teilnehmer*innenzahl wie letztes Jahr auf die Straße gebracht. Aber wir waren mit unseren Nachbarn von nebenan und überall in Europa gemeinsam dabei. Und das zählt vielleicht noch mehr.“
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