: Mich interessierte Gaby
VERSCHWUNDEN Félix Bruzzone erzählt von dem Unauffindbaren
Kann man vermissen, was man nie gehabt hat? Es sind kleine Geschichten, die scheinbar harmlose Begebenheiten aus dem argentinischen Alltag erzählen. Doch hinter Sommerurlauben am Strand, Liebeleien und Gemeinheiten innerhalb von Jungsfreundschaften verbirgt sich die Suche. Nicht nach dem Sinn oder der Erfüllung, sondern schlicht und doch erschütternd nach den eigenen Eltern. Félix Bruzzone hat acht Erzählungen geschrieben, alle aus der Sicht von Kindern, deren Eltern während der Diktatur verschwunden sind.
Die Suche und der Umgang nach dem großen Loch in der eigenen Geschichte wandelt sich mit zunehmendem Alter. „76“ heißt nun das Buch. Das Jahr, in dem die Diktatur begann, Félix Bruzzone geboren wurde, seine Eltern verschwanden und die Zeitung Clarín titelte: „Alles ganz normal, das Militär regiert“. In ebendieser Clarín ist Bruzzone nun zu einem der zehn wichtigsten Autoren des vergangenen Jahrzehnts ausgerufen worden. Zynismus? Späte Gerechtigkeit?
Die Protagonisten in Bruzzones kurzen Geschichten erleben kleine Schlüsselmomente, in denen das, was ihnen fehlt, Überhand nimmt und ihre Welt zum Stillstand zwingt. Stimmen aus Kaffeebechern, Motorschäden – Metaphern einer Hilflosigkeit, die sich kaum beheben lässt.
„So lebte ich ohne Prioritäten dahin, bis ich eines Tages im Fernsehen eine Sendung über Kinder von Verschwundenen sah, die sich in einer Gruppe organisiert hatten“, sinniert der Protagonist der Geschichte „Unter Wasser rauchen“. Doch auch mit der Gruppe änderte sich nichts, sie kann nicht füllen, was zu füllen wäre. Dafür ist noch immer die Liebe zuständig: „In Wirklichkeit interessierte mich vor allem Gaby.“
Die Ungerechtigkeit ist für die Kinder der Verschwundenen schwer begreifbar. Der Schmerz ist den Großeltern, Tanten und Onkeln vorbehalten, für die Kinder ist es ein Phantomschmerz – nagend, kaum zu lokalisieren oder zu heilen. FRAUKE BÖGER
■ Félix Bruzzone: „76“. Aus dem argentinischen Spanisch von Markus Jakob. Berenberg Verlag, Berlin 2010, 144 Seiten, 19 Euro