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Mexiko - ein Jahr nach dem großen Beben

■ Die Erdbebengeschädigten protestieren gegen Korruption und den langsamen Wiederaufbau / In Tepito, einem alten Stadtteil des Zentrums, versucht die Regierung, über den Wiederaufbau gewachsene Sozialstrukturen zu zerschlagen

Aus Mexiko–Stadt Barbara Beck

Zum ersten Jahrestag des Erdbebens haben am Freitag in Mexiko– Stadt Zehntausende ihren Protest gegen die nur langsam vorankommenden Wiederaufbauarbeiten der Regierung auf die Straße getragen. Etwa 50.000 Menschen beteiligten sich an einem Umzug der „Koordinationszentrale der Erdbebenopfer“ (CUD), die vor allem den korrupten Umgang der Regierung mit den Hilfsgeldern anprangerte. Weitere 30.000 hatten einem Aufruf der PST, einer loyalen Oppositionspartei, Folge geleistet, die von der Regierung vor allem höhere Entschädigung fordert. Und ebensoviele vermochte schließlich die Regierungspartei PRI hinter sich zu versammeln, die sich aufgrund der erwarteten Proteste kurzfristig entschlossen hatte, sich ihre Politik von der Straße beglaubigen zu lassen. Jahrestage sind Tage, an denen Bilanz gezogen wird. Doch wieviele Opfer die Katastrophe vom 19. September 1985 tatsächlich gefordert hat, wird wohl ewig im Dunkel bleiben. Die offiziell bekanntgegebene Zahl von 4.287 Toten glaubt nicht ein einziger Mexikaner. Aber auch die von der CUD angenommene Zahl von 45.000 Toten scheint vielen noch zu niedrig gegriffen, informelle Angaben schwanken zwischen 60.000 und 80.000. Die von der Regierung unmittelbar nach dem Erdbeben versprochene unbürokratische Hilfe läßt auf sich warten. Von den 28.302 im Wiederaufbauprogramm geplanten Wohn häusern waren am 1. September, dem Tag der Regierungserklärung des Präsidenten De la Madrid, 1.105 fertiggestellt. In Tepito, einem alten Stadtteil im Zentrum Mexikos, der vom Erdbeben besonders stark betroffen wurde, treibt einem der Staub, nicht der Smog, Tränen in die Augen. Hier wird immer noch abgerissen. Ein Jahr nach dem Erdbeben leben hier mehr Menschen auf der Straße als unmittelbar nach der Katastrophe. 50.000 bis 55.000 wohnen in Zelten oder notdürftig zusammengezimmerten Hütten auf engstem Raum ohne Wasser und Licht. Aber auch die Tepitenos, die inzwischen eine neue Wohnung beziehen konnten, haben mit Problemen zu kämpfen. Die Wohnungen sind zu klein, die Wasserleitungen und Abflußrohre sind undicht und es regnet durch die Decke. Tepito, das heißt übersetzt: kleines Haus, war vor der Eroberung Stadtteil des Stadtstaates Tlatelolco, dem Zentrum der Händler. Hier wurden Cuauhtemoc, dem letzten Aztekenherrscher, von den Spaniern die Füße verbrannt. Unter spanischer Kolonialherrschaft änderte Tepito seinen Namen: Tequipeupan, das heißt: der Ort, wo die Sklaverei begann. Heute leben in Tepito vorwiegend kleine Händler, Schmuggler und Selbstständige: Schuhproduzenten und Kunsthandwerker. Offiziell gibt es Tepito gar nicht. Auf dem Stadtplan oder in regierungsamtlichen Schriften sucht man vergebens, verwaltungsmäßig ist es geteilt, ein Teil gehört zum Stadtbezirk Cuauthemoc, der andere zu Morelos. Und doch kennt jeder Mexikaner Tepito, für viele leben dort die Diebe, Schmuggler, Drogenhändler, eben die Kriminellen. Da wird man überfallen und ausgeraubt. Die Tepitenos sehen das anders. Für sie ist es ein von der Regierung lanciertes Vorurteil, um ihren Widerstand zu isolieren. Die 350.000 Tepitenos leben in Vecindades (Nachbarschaften), die sich in der Regel aus 20 bis 30 Familien zusammensetzen. Die Wohnungen, häufig zugleich Produktionsstätten und Lagerräume, öffnen sich zu einem gemeinsamen Patio (Hof), wo der Altar, der Vecindad, steht und Feste gefeiert werden. Der Patio hat einen Ausgang zur Straße. Viele Vecindades, Häuser aus dem letzten Jahrhundert, sind durch das Erdbeben zerstört, andere, baufällige, inzwischen abgerissen worden. Über eine veränderte Architektur und neue Eigentumsregelungen versucht die Regierung mit ihrem Wiederaufbauprogramm, die soziale Struktur der Vecindad in Tepito zu verändern. Die neuen Vecindades haben nicht mehr den schützenden gemeinsamen Patio, und sie sind oft mehrgeschossig, was bedeuet, daß die Kleinhändler, die ihre Ware jeden Tag auf den Markt tragen und abends wieder mit nach Hause nehmen, viele Stufen in engen Treppenhäusern hochsteigen müssen. Der Bau neuer Häuser wird allerdings nicht nur durch Korruption von Funktionären und Baufirmen verzögert, ein wesentliches Hindernis sind auch Verschleppung und Bestechung in den Enteignungsverfahren. In Tepito sollten 228 Grundstücke enteignet werden, in 124 Fällen erhoben die Eigentümer Einspruch und in bisher 43 Entscheidungen wurden den Eigentümern, die auf Habeas corpus klagten, ihre Grundstücke zurückgegeben. Wo nicht enteignet wird, wird es für die Erdbebengeschädigten auch keine Wohnungen geben. Schon vor dem Erdbeben, gab es übrigens einen „Plan Tepito“, der vorsah, die Vecindades abzureißen und Mietskasernen aufzustellen, wo, wie die Tepitenos sagen, einer erst merkt, daß der Nachbar gestorben ist, wenn es stinkt und grüne Fliegen unter der Tür hervorkommen.

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