Merkel bei Parteibasis: Unverbindlichkeit als Leitkultur der CDU
Zwischen Putin-Besuch und EU-Gipfel begibt sich die Kanzlerin in die Innenpolitik. In NRW stimmt sie ihre Parteibasis auf einen ALG-I-Kompromiss ein.
Die Rückkehr in die Innenpolitik kann hart sein. Gerade hat die Kanzlerin noch Wladimir Putin empfangen und neue Energiegeschäfte mit Russland eingefädelt. Jetzt sitzt sie in der Essener Grugahalle bei der eigenen Parteibasis. Es geht um das neue Grundsatzprogramm der CDU. Ein Mann mit einem großen Kreuz um den Hals geht ans Mikrofon und erklärt, er müsse der Frau Parteivorsitzenden leider etwas Unangenehmes sagen. Weil die Parteivorsitzende nicht sofort erbleicht, stellt der Mann fest: "Frau Merkel lächelt - noch."
Der Redner, ein CDU-Mitglied aus Essen, weiß, wie man Spannung erzeugt. In der Halle wird es still. 1.500 Parteifreunde drehen sich um: Was kommt jetzt? Will der Mann Angela Merkel attackieren, weil sie ihre Versprechen nicht gehalten hat? Weil sie als Kanzlerin eine Politik macht, die den Grundsätzen der CDU widerspricht?
Ja. Darum geht es. Die Zahl der Abtreibungen sei viel zu hoch und die CDU tue dagegen viel zu wenig, sagt der Mann mit dem Kreuz um den Hals. "Dabei sind wir doch eine christliche Partei." Oh. Im Saal wird gemurmelt. Ein paar Leute klatschen, zaghaft. Aber dann kommt ein Satz, der Merkel entlastet: Das mit den Abtreibungen und dem Wenig-dagegen-Tun sei unter Kohl auch schon so gewesen, sagt der Mann mit dem Kreuz. Er wolle nur noch einmal darauf hinweisen, damit die Partei das Problem Abtreibung bitte nicht vergesse.
Merkel versichert, das Anliegen ernst zu nehmen. Das wars. Der Mann setzt sich wieder hin.
Je länger der Abend dauert, desto entspannter wirkt die Kanzlerin. Alle weiteren Wortmeldungen bei der CDU-Regionalversammlung in Nordrhein-Westfalen sind im Ton brav und inhaltlich wenig brisant. Ein Parteifunktionär wünscht sich ein stärkeres Bekenntnis zum Beamtentum, ein anderer das zur Bundeswehr. "Was mir fehlt, ist ein Hinweis auf kleine und mittlere Betriebe", sagt ein Unternehmer.
Grundsatzkritik? Radikale Änderungsanträge? Gibt es nicht. Warum auch? Gastgeber Jürgen Rüttgers hat schon zur Begrüßung gesagt, man sei "in einer Situation, in der wir Christdemokraten sehr zufrieden sein können". Die Arbeitslosenquote werde geringer, und "die Wirtschaft brummt". Das alles sei das Verdienst der Bundeskanzlerin.
Die Stimmung ist von Selbstzufriedenheit geprägt. Mag sein, dass manche in der CDU Angela Merkel, die radikale Reformerin von einst, vermissen. Aber sie schweigen. Solange sie in allen Umfragen führt, bekommt Merkel keinerlei Kritik zu hören. Schon gar nicht hier in Nordrhein-Westfalen, wo Rüttgers schon lange einen sozialen Kurs vertritt. Das Bedürfnis nach Unterschieden zur SPD wird durch das neuerliche Bekenntnis zur "Leitkultur" im Parteiprogramm offenbar ausreichend gestillt. Was Leitkultur genau bedeutet, wird nicht diskutiert.
Die scheinbar sorgenfreie Debatte der CDU hat gerade an diesem Abend etwas Surreales. Die wochenlange öffentliche Aufregung über das Arbeitslosengeld spielt hier keine Rolle. Auch am Ende eines Tages, an dem der SPD-Chef die Forderung nach mehr Arbeitslosengeld für Ältere parteiintern durchgesetzt und den SPD-Vizekanzler faktisch entmachtet hat, scheint kein Parteifreund von Merkel zu erwarten, dass sie zu diesem Thema klar Position bezieht. So kann sie es bei einigen Randbemerkungen in ihrer Rede belassen - und den Streit, der den Koalitionspartner so sehr bewegt, herunterspielen. Ob nun mehr Arbeitslosengeld ausgezahlt werden soll oder nicht, sei ja "an sich kein weltumspannendes Thema", sagt Merkel. Die Diskussion darüber zeige jedoch, "dass es den Menschen um Gerechtigkeit geht", fügt sie hinzu.
Ist es schon eine Andeutung, dass Merkel wieder einen Kompromiss vorbereitet? Ausdrücklich lobt sie die Bereitschaft der SPD, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Die alte Forderung der CDU, dass eine Verlängerung der Arbeitslosengeldzahlung "kostenneutral" finanziert werden müsse, erwähnt die Kanzlerin nicht mehr. Es fragt auch keiner danach. Die neue Leitkultur der CDU, das wird an diesem Abend so deutlich wie selten, ist Unverbindlichkeit. Zum Abschied lächelt Merkel wieder. Sie fliegt jetzt zum EU-Gipfel, der Ausflug in die Innenpolitik geht spurlos vorbei.
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