Meridian des Schmerzes

■ Der Briefwechsel von Nelly Sachs und Paul Celan: Lyrik unter Freunden

Sie teilen dieselbe Verzweiflung und dieselbe Todesangst. Sie eint eine Freundschaft, die im poetischen Wort ihren Halt und ihre Hoffnung findet. In einem einsamen Kampf suchen sie gemeinsam, den Horror der Naziverfolgung im Gedicht aufzubewahren und zu überwinden.

„Alle die Namen, alle die mit- / verbrannten / Namen. Soviel / zu segnende Asche ...“, schreibt Paul Celan in dem Gedicht „Chymisch“. Und Nelly Sachs antwortet ihm aus ihrem schwedischen Exil: „Wir Waisen / Wir klagen der Welt: / Herabgehauen hat man unseren Ast / Und ins Feuer geworfen – / Brennholz hat man aus unseren Beschützern gemacht ...“ („Chor der Waisen“). Ein Dialog in Gedichten.

Daß es sich hier um ein Zwiegespräch handelt, daß sich Sachs' und Celans Lyrik unmittelbar an den anderen richtet, ihm Trost und Hilfe sein soll, wird erst jetzt vollends sichtbar, da der Briefwechsel zwischen beiden erstmals vollständig vorliegt.

Blick auf das Schicksal zweier Gejagter

Nelly Sachs (1891–1970) und Paul Celan (1920–1970) haben sich über einen Zeitraum von fast 16 Jahren regelmäßig Briefe geschrieben: vom Frühjahr 1954 bis Ende 1969. Welche Bedeutung beide dieser Korrespondenz beimaßen, wird schon an der beachtlichen Vollständigkeit erkennbar, in der die Briefe erhalten sind. Bislang waren der Öffentlichkeit nur wenige davon bekannt. Nun beginnt nicht nur für die Literaturwissenschaft ein neues Kapitel der Celan- und der Sachs-Forschung, es öffnet sich der Blick auf das persönliche Schicksal zweier Gejagter, das für Celan mit dem Selbstmord in der Seine endete, für Nelly Sachs in einem jahrelangen Kampf um ihre psychische Identität in psychiatrischer Behandlung. „Lieber Paul Celan, wir wollen uns weiter einander die Wahrheit hinüberreichen. Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“, schreibt Nelly Sachs im Oktober 1959 und formuliert damit den Kern ihrer Freundschaft.

Zur ersten Begegnung zwischen Paul Celan und Nelly Sachs kommt es im Juni 1960 in Zürich anläßlich der Verleihung des Droste-Preises an die Dichterin. Dieses Jahr bringt für Nelly Sachs die erste Wiederbegegnung mit Deutschland, mit dem Klang der deutschen Sprache, seit ihrer Vertreibung im Jahre 1940. Um nicht in Deutschland übernachten zu müssen, wählt sie Zürich als Reiseziel. Diese Fahrt wird jedoch zu einem traumatischen Erlebnis für sie und markiert den Beginn eines Leidensweges, der sie wegen ihrer wahnhafen Angstträume zu langen Aufenthalten in schwedischen Heilanstalten zwingt.

Kurz vor der Abfahrt nach Zürich schreibt sie: „Lieber, lieber Paul – Bruder [...] Habe hier im Friedensschweden etwas ganz Schreckliches durchzumachen – [...] eine dunkle Gesellschaft mit Verfolgungsmethoden macht sich das Vergnügen [...] So werden wir uns dennoch in der Hoffnung begegnen – in dunkler Sternzeit, aber doch mit Hoffnung!“ Einige Wochen zuvor schildert Paul Celan ihr in einem Brief, wie sehr ihn eine antisemitische Kritik seines Bandes „Sprachgitter“ im Berliner Tagesspiegel verletzt habe: „Täglich kommt mir die Gemeinheit ins Haus, täglich, glauben Sie's mir. Was steht uns Juden noch bevor?“

Die dunkle Welt in der Waage halten

Zunächst vermag Nelly Sachs ihren Angstzuständen zu entkommen. In der Begegnung mit Paul Celan, der sie im Hotel „Zum Storchen“ trifft und zu seiner Familie nach Paris einlädt, erscheint sie noch als die Stärkere, Gebende. Paul Celan widmet dieser Begegnung das Gedicht „Zürich, Zum Storchen“: „Vom Zuviel war die Rede, vom / Zuwenig. Vom Du / und Aber-Du, von / der Trübung durch Helles, von Jüdischem, von / deinem Gott ...“

Hörbar ist in diesem Gedicht der Zweifel Celans an ihrem Vertrauen in einen anwesenden Gott. Doch das Poem endet mit einer Leerstelle, in die Hoffnung fließen kann: „Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Aug zu, ich hörte: / Wir / wissen ja nicht, weißt du / wir / wissen ja nicht, / was / gilt ...“

Nelly Sachs nennt Celan den „Hölderlin unserer Zeit“. Sie macht es sich zur Aufgabe, den Dichter vor seinem offenbar vorgezeichneten Schicksal zu bewahren. „Ich werde für Sie kämpfen“, ruft sie ihm in einem Brief zu, und sie versichert ihm, daß seine „reine Seele“ die dunkle Welt in der Waage halte. Kurz darauf bricht sie zusammen.

Stockholm, 25. 7. 1960: „Paul. Lieber nur schnell einige Zeilen. Eine Nazi-Spiritist-Liga jagt mich so schrecklich raffiniert mit Radiotelegraph, sie wissen alles, wohin ich den Fuß setze.“ Sie ertrinkt in ihrer Paranoia, und Paul Celan reagiert zunächst erschrocken und hilflos. Nun ist er aufgerufen, der Freundin das Verlangte zu geben, sie mit seinen Worten zu stützen. Er versucht, sie an ihre Aufgabe zu erinnern, an die wartenden Worte, die sie mit „neuen Helligkeiten“ beseelen müsse. Als sie ihm antwortet: „Ich sehne mich so nach meinen geliebten Toten“, beginnt

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er in einem der ergreifendsten Briefe ihrer Korrespondenz um ihren Lebenswillen zu flehen: „Es bedarf Deiner, bedarf [...] Deiner noch lange, es sucht Deinen Blick–: schick ihn, diesen Blick, wieder ins Offene, gib ihm Deine wahren, Deine befreienden Worte mit, [...] laß uns, die schon Freien, die Allerfreiesten sein, die Mit- Dir-im-Licht-Stehenden!“ Auf diesen Brief antwortet sie nicht.

Ende des Jahres 1960 verschlimmert sich ihr Zustand dramatisch. Sie telegraphiert: „Komm so schnell als möglich!“ Als Celan Hals über Kopf nach Schweden reist und sie an ihrem Krankenbett besucht, erkennt die Schwerkranke ihren „Bruder“ nicht. Tief betrübt fährt Celan zurück nach Paris. Ein weiteres Mal treffen sich die beiden nicht. Der Briefkontakt bleibt zwar bestehen, doch bedingt durch ihre Krankheit und die wachsende Zeit der Trennung werden die Briefe seltener. Immer wieder muß sich Nelly Sachs in die Obhut der Ärzte begeben, manchmal über Monate. Aus dieser Zeit erreichen ihn Gedichte, die der Krankheit abgerungen sind, von Todessehnsucht und Liebeshoffnung sprechen, klar und von intimer Poesie: „Die gekrümmte Linie des Leidens / nachtastend die göttlich entzündete Geometrie / des Weltalls / immer auf der Leuchtspur zu dir / und verdunkelt wieder in der Fallsucht – / dieser Ungeduld ans Ende zu kommen.“

Paul Celan antwortet: „In einsamster Stunde: Ich danke Dir. Ich höre Dich.“ Noch besteht der Meridian des Schmerzes. Er verbindet die Dichter, versichert sie des gemeinsamen Weges, den sie jeder für sich gehen. Rettung können die Freunde einander nicht sein.

Nelly Sachs spricht ihre Trauer um die wachsende Entfremdung zu Pau Celan aus. Sie formuliert im Dezember 1965 ihren Abschied, der nicht nur dem Freund gelten mag: „Wir stürzten / in das Verlies des Abschieds / rückwärts / Schattenschwarz schon / hinausgeschenkt / ins Erloschene.“ Einige Monate zuvor, im Oktober 1966, erhält sie den Literatur-Nobelpreis. Der von ihr gewünschte Besuch Celans anläßlich ihres Geburtstages und der Verleihung findet nicht statt, die Korrespondenz wird in den folgenden Jahren immer spärlicher. Mitteilungen, Grüße und neue Buchveröffentlichungen sind zunehmend die Anlässe der Schreiben, Persönliches tritt in den Hintergrund. Erst kurz vor ihrer beider Todesjahr werden die Briefe wieder häufiger, doch die frühere Intimität fehlt jetzt. Ihr letzter Brief am 15. 12. 1969: „Paul, Lieber Du, viele gute Wünsche. Alle deine Gedichte sind bei mir in der Schmerzenszeit.“

Sein letzter Brief (ohne Datum): „Alles Frohe, liebe Nelly, alles Lichte!“

An demselben 12. Mai, an dem Nelly Sachs 1970 ihrem Krebsleiden erliegt, wird Paul Celan auf dem Cimetière Parisien nahe Orly begraben. Daß er bereits Anfang April als vermißt gemeldet ist, wird ihr verschwiegen. Theo Bach

Paul Celan, Nelly Sachs: „Briefwechsel“, Suhrkamp Verlag, 181 Seiten, geb., 48 DM