: Mentales Ghetto
■ betr.: „Lesben sind keine ,Ho mos‘“, taz vom 18.6.94
Liebe Jutta, [...] es darf nicht darum gehen, seine eigene Sexualität gegenüber einer anderen aufzuwerten und sogar zu behaupten, Lesben würden sie als Waffe gegen das patriarchalische System verwenden. Du beleidigst damit jede hetero- oder bisexuelle Feministin, die ihre selbstbewußt ausgelebte Sexualität nicht als Akt der Unterwerfung ansieht. Des weiteren läßt sich aus Deinem Pamphlet erkennen, daß Du das Lesbischsein und somit auch das Schwulsein als etwas betrachtest, was mensch sich im Laufe seines Lebens aussucht, je nachdem, wie ausgeflippt oder anders mensch sein will. Du nivellierst Dich da auf dieselbe Stufe wie meine kleinkarierten Eltern, die mich mahnend fragten, was für ein Leben ich mir denn aussuchen würde.
Du mußt einsehen, daß die weibliche Existenz losgelöst von der homosexuellen Identität betrachtet werden muß. Eine lesbische Frau ist anders als eine heterosexuelle. Und heterosexuelle Frauen diskriminieren, obwohl sie selbst als Frauen unterdrückt werden, zusammen mit heterosexuellen Männern die Homosexualität als Ganzes. Wenn sie sich der christlich-abendländischen Intoleranz verpflichtet fühlen, stehen uns alle Heteros als gesellschaftliche Feinde gegenüber.
Daß es aufgrund der patriarchalischen Strukturen homosexuellen Männern besser geht als homosexuellen Frauen, ist ein Faktum. Du hast aber noch lange kein Recht, engagierte schwule Männer in ihrer Rolle gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zu diskreditieren. Du unterstellst ihnen, daß sie ihren Kampf um die Anerkennung ihrer Sexualität mißbrauchen, um einen extra Bonuspunkt in ihrer ohnehin männlichen Dominanz zu erhaschen. Wir, die Betroffenen von Ausgrenzung und Diskriminierung, müssen zusammen, das heißt „Lesben und Schwule“, gegen ein Weltbild vorgehen, welches das Postulat, die Sexualität sei nur als ein Mittel der Fortpflanzung und innerhalb der christlich legitimierten Ehe möglich, auf den heiligen Thron der Unfehlbarkeit erhebt. Doch leider muß ich resignieren und hoffen, daß es noch andere Lesben gibt, die nicht diese neopuritanisch gefärbte Neurose wie Du besitzen, welche vielleicht, und das täte mir leid, als Folge aus der gesellschaftlichen Brandmarkung entstanden ist. Du solltest versuchen, aus Deinem mentalen Ghetto zu fliehen und den Vorteil, den männliche Homosexuelle besitzen und zu einem Vorsprung gegenüber der lesbischen Bewegung ausgebaut haben, positiv zu nutzen, Dich solidarisch zu zeigen und niemals wieder aus Profilsucht heraus einen Schwulen mit der heterosexuellen Machowirklichkeit gleichzusetzen.
Mit einem gar nicht so freundlichen Gruß des ab jetzt „nur“ noch schwulen Parteikollegen Robert Niedermeier, Essen
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