Menschenversuche in der U-Bahn

Millionen von US-Bürgern mit Bakterien besprüht / Einzelheiten eines geheimen Programms zur B-Waffenforschung werden nach und nach enthüllt / Selbst Todesfälle wurden vom amerikanischen Geheimdienst in Kauf genommen  ■ Von Friedrich Hansen

Nach den Enthüllungen über die Bestrahlungsexperimente an Hunderten von ahnungslosen US- Bürgern werden jetzt nach und nach Einzelheiten über weitere Menschenversuche in den Vereinigten Staaten bekannt. Die Versuche waren Teil eines geheimen Programmes des Pentagon zur Entwicklung und Erprobung von Abwehrmaßnahmen gegen ABC- Waffen, das schon bald nach dem Zerfall der Anti-Hitler-Koalition mit dem Beginn des Kalten Krieges in Angriff genommen wurde.

Der erste streng geheime Versuch dieser Art fand im Februar 1950 unter dem Codenamen Operation Big City statt. Geheimagenten des CIA versprühten während der Hauptverkehrszeiten Mikroorganismen in den U-Bahnschächten von Manhattan. Verwendet wurde dabei das als ungefährlich geltende Bacillus subtilis. Zum Giftarsenal der Geheimdienstler gehörte aber auch der schon damals als gefährlich eingestufte Pilz Aspergillus fumigatus. Eine zweite Attacke erfolgte im Juni 1966: Mehr als eine Million ahnungslose Fahrgäste der New Yorker Subway waren betroffen.

Nach Recherchen des Politologen Leonard Cole aus New Jersey, der mit Hilfe des Freedom of Information Act 1980 von der US-Armee die Freigabe der geheimen Projektberichte erzwang, wollte man herausfinden, wie sich die Mikroorganismen in dem Tunnelsystem der U-Bahn ausbreiteten und welche Mengen erforderlich sein würden, um die Bevölkerung von Manhattan zu verseuchen. Zu diesem Zweck streuten CIA-Mitarbeiter bakteriengetränkte Kohlepartikel auf die Gleise und warfen mit Bakterien gefüllte Glasampullen in die Entlüftungsschächte der U-Bahn. Die schnellen Expreßzüge sorgten dann mit ihrem Luftsog für eine rasche und kilometerweite Verteilung der von einem arglosen Fahrgast kaum zu bemerkenden Bakterienwolken. Anschließend wurden von den Wissenschaftlern die in den Tunnelsystemen versteckten Nährböden ausgewertet, mit denen man die schwebenden Bakterien auffing. Aus der Qualität und Anzahl der Bakterienkolonien konnte dann die Effektivität der Methoden ermittelt werden. Die so gewonnenen Daten wurden in zahlreichen Tabellen sorgfältig protokolliert.

Die Experimente waren Teil der amerikanischen B-Waffenschutzforschung, die 1949 begann und sich über eine Periode von zwanzig Jahren erstreckte. Millionen von US-Bürgern nahmen unfreiwillig in den fünfziger und sechziger Jahren an etwa dreißig Großversuchen in 239 mehr oder weniger dicht bevölkerten Regionen zwischen Alaska und Florida teil. Feindliche Angriffe mit B-Waffen wurden simuliert, indem die US- Armee flächendeckend amerikanische Städte und Landstriche mit Bakterienwolken besprühte, um deren Ausbreitung bei unterschiedlichen klimatischen Bedingungen zu studieren.

Lediglich über zwei Großversuche, in New York und San Francisco, liegen bis jetzt die geheimen Armeeberichte der Öffentlichkeit vor. Danach wurden die gesundheitlichen Effekte bei der betroffenen Bevölkerung nicht untersucht, wie Senator Richard Schweiker bei einem Hearing des Kongresses bemerkte.

Im Jahre 1969 waren die Experimente beendet worden, nachdem Wissenschaftler darauf aufmerksam machten, daß die verwendeten Testbakterien keineswegs als harmlos gelten konnten. Es stellte sich nämlich heraus, daß die Keime für Kinder, Alte und besonders für immungeschwächte Patienten gefährlich werden konnten. Für Aufsehen sorgte 1951 der Tod von Albert Nevin. Wie sich erst viele Jahre später erwies, starb er im Krankenhaus von San Francisco an einer Infektion mit Serratia marcescens, wenige Tage nachdem die Armee von einem in der Bay kreuzenden Schiff just diese Keime in Aerosolwolken ausgebracht hatte. Elf weitere Krankenhauspatienten sollten sich mit diesem Erreger infiziert haben. Es erwies sich jedoch als unmöglich, den kausalen Zusammenhang dreißig Jahre später noch schlüssig nachzuweisen, und so scheiterte der Enkel Edward Nevin mit seiner Schadensersatzklage gegen die US-Regierung im Jahre 1977.

Die geheimen Protokolle des Großversuchs in San Francisco wurden auf einen entsprechenden Antrag nach dem Freedom of Information Act erst 1980 deklassifiziert und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Danach hatte jeder der damals 800.000 Einwohner von San Francisco bei dem Großversuch im Jahre 1951 durchschnittlich 5.000 Keime pro Minute inhaliert. Da die Bakterienwolken mehrere Stunden über der Metropole schwebten, wurde jeder Bürger Millionen von Keimen ausgesetzt.

Aus all dem wollte man angeblich Abwehrmaßnahmen gegen feindliche, geheime B-Waffenangriffe gewinnen. Die in dem offiziellen Report entwickelten Schutzmaßnahmen erscheinen nicht nur dem Experten als ziemlich dürftig und unsinnig. Da wird von der Armee allen Ernstes erwogen, das U- Bahn-Personal über bakteriologische Waffen zu schulen und das Passieren zwischen den U- Bahnwagen in politischen Krisenzeiten zu verbieten. So scheint es, daß der Nutzen dieser Großversuche wohl eher darin bestand, eine Einschätzung der Bakterien als Angriffswaffen zu gewinnen.

Bemerkenswert ist aber nun, daß diese Menschenexperimente vermutlich nicht die ersten ihrer Art waren, sondern auf deutsche Vorbilder in den frühen dreißiger Jahren zurückgehen. Die geheimen Pläne dieser deutschen U- Bahnexperimente gelangten 1945 als Kriegsbeute in die USA und haben die dortigen Experten offenbar so nachhaltig beeindruckt, daß sie die Versuche wiederholten. Es ist bis heute allerdings nicht gesichert, ob die deutschen Versuche tatsächlich jemals durchgeführt wurden, oder ob sie im Planungsstadium steckengeblieben sind. Pläne über deutsche bakteriologische Experimente in den Untergrundbahnen von Paris hatte im Sommer 1934 der britische Journalist Wickham Steed in dem Magazin Nineteenth Century aufgedeckt. Das führte zu einem Schock der internationalen Öffentlichkeit, gefolgt von einer heftigen Kontroverse in der Presse. Steed hatte als vormaliger Chef der Londoner Times einen hervorragenden Ruf und galt als seriöse Quelle. Er weigert sich jedoch hartnäckig, jene deutschen Originaldokumente offenzulegen, auf die sich seine Behauptungen stützten.

Steed zufolge hatten die deutschen Geheimexperimente bereits im Jahr 1931 begonnen. Zweck dieser Versuche sei es gewesen, die Ausbreitung von Bakterienaerosolen zu kalkulieren. Die Experimente sollen von deutschen Geheimagenten in mehreren europäischen Großstädten ausgeführt worden sein. Details lieferte Steed aber nur über die Pariser Versuche. Dort sollen insgesamt 210 Versuchseinheiten mit Billionen von Keimen ausgebracht worden sein. Auch hier arbeitete man mit Serratia marcescens, der im christlichen Europa auch den Namen „blutende Hostie“ führte, weil er auf den Oblaten des Abendmahls eine charakteristische rote Färbung verursachte.

Angeblich waren auch auf dem Berliner Flughafen Tempelhof ähnliche Versuche vorgesehen. Diese sollten dazu dienen, die Ergebnisse von Paris noch mal zu überprüfen und darüber hinaus Schutzmaßnahmen gegen derartige Angriffe zu entwickeln.

Nach jüngsten minutiösen Recherchen des Historikers Martin Hugh-Jones aus Baton Rouge in Louisiana bestehen an der Authentizität der deutschen Versuchspläne kaum mehr Zweifel, wohl aber an der Ausführung derselben. Immerhin soll die Pariser Polizei zwei deutsche Studenten mit Bakterienbehältern auf frischer Tat ertappt haben.

Allein der Gedanke an die Existenz derartiger Behörden-Pläne in Friedenszeiten läßt wohl auch heute noch den ahnungslosen U- Bahnreisenden erschauern.

Von Friedrich Hansen ist im Campus Verlag das Buch „Biologische Kriegsführung im Dritten Reich“ erschienen. Frankfurt a.M. 1993, 228 Seiten, 29,– DM