Menschenrechtsanwalt über Syrien: „Dem Westen fehlt jede Vision“
Die westliche Politik unterschätzt die Gefahr, die von den Dschihadisten ausgeht, kritisiert Anwar al-Buni. Es gehe nur noch ums Überleben.
taz: Herr al-Buni, trotz des Krieges haben Sie bis vor Kurzem als Menschenrechtsanwalt in Syrien gearbeitet. Doch dann mussten auch Sie ins Exil. Was hat den Ausschlag gegeben?
Anwar Al-Buni: Für mich stand fest, solange ich noch etwas für die Gefangenen ausrichten kann, bleibe ich bei ihnen. Aber am Ende durften wir sie nicht mehr besuchen, nicht mehr vor Gericht verteidigen, wir konnten nichts mehr tun. Dann kündigten drei Geheimdienste an, sie würden mich verhaften. Also musste ich Syrien verlassen. In Syrien geht es nur noch ums Überleben, nicht mehr um den Kampf um Freiheit. Sonst wäre ich geblieben.
Sie waren von 2006 bis 2011 selbst im Gefängnis und haben Ihre Lizenz als Anwalt nie verloren, haben nach Ihrer Entlassung sofort wieder politische Gefangene verteidigt. Warum hat das Regime Sie gewähren lassen?
Ich konnte damit rechnen, dass das Regime mich nach fünf Jahren Haft nicht so sofort erneut einsperren würde. Sie haben dann auch nicht mich, sondern meinen Kollegen verhaftet. Er ist bis heute verschwunden. Das war eine Warnung für alle Anwälte. Aber ich habe weitergemacht, habe mich immer auf das Juristische konzentriert und war nie offen politisch aktiv.
Wie ist die Situation für politische Gefangene in Syrien im Moment?
Wir wissen, dass mindestens seit Beginn der Revolution 2011 mindestens 50.000 unter Folter von den verschiedenen Sicherheitsorganen des Assad-Regime ermordet wurden.
Die 2011 veröffentlichten Akten und Bilder sprechen von 11.000.
Ja, weil sie sich allein auf die Opfer der Militärpolizei in Damaskus beziehen. Wir gehen davon aus, dass etwa 200.000 Menschen vom Regime seit 2011 inhaftiert wurden. 20.000 wurden direkt vom Militärgericht verurteilt, 30.000 wurde der Prozess wegen Terrorismus gemacht, rund 100.000 sind „verschwunden“, insgesamt sind etwa 50.000 sind bereits gestorben.
verteidigt seit den 1990er Jahren Menschenrechtsaktivisten und politisch Verfolgte in Syrien und hat eine Verfassung für die Zeit nach Baschar al-Assad und dessen Baath-Partei entwickelt. 2005 drängten ihn Unbekannte im Auto von der Straße ab, schlugen ihn zusammen und ließen ihn schwer verletzt zurück. 2006–2011 wurde er verhaftet. Seine Familie wird seit den 1970er Jahren aufgrund ihrer oppositionellen Tätigkeit verfolgt. Sie haben insgesamt über 60 Jahre im Gefängnis verbracht, davon allein seine Brüder Akram und Youssef Benni über dreißig Jahre. Al-Buni lebt heute mit seiner Frau in Berlin.
Gibt es die Chance, das Assad-Regime deshalb vor den Menschenrechtshof in Den Haag ICC zu bringen?
Nein. Russland und China werden weiter alles blockieren. Denn sonst müssten sie fürchten, dass sie selbst in der Zukunft angeklagt würden, etwa wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tschetschenien und weil sie die Assad-Regierung mit Waffen und Geld unterstützt haben. Ihre Blockadehaltung ist reine Selbstverteidigung.
Welche Option gibt es dann?
Seit 2011 denken wir darüber nach, wie wir Transitional Justice organisieren können. Wie muss ein Gericht nach Ende des Krieges aussehen? Wer sollen die Richter sein? Wer kann sie kontrollieren? In jedem Fall muss ein solcher Gerichtshof in Syrien angesiedelt sein, aber den Prozessen sollten internationale und syrische Richter vorsitzen. Wir brauchen die Mischung.
Gibt es syrische Juristen, die einer solchen Verantwortung gerecht werden?
Mein Plan ist es, ein Zentrum aufzubauen, in denen entsprechende Juristen geschult werden. Nur so können wir den Angehörigen der Opfer die Botschaft zukommen lassen, dass wir das Unrecht und das Leiden nicht dem politischen Spiel überlassen. Was passiert, wenn man das nicht macht, kann man in Ägypten oder im Irak beobachten. Dort gibt es keine Rechtsprechung mehr.
Wo soll das Trainingszentrum entstehen?
Am besten in Gaziantep, denn die Nähe zu Syrien hilft, dass Zeugen vernommen werden können etc. Natürlich ist völlig unklar, ob die Türkei uns eine Erlaubnis für ein solches Zentrum gibt. Und noch habe ich auch das Geld nicht zusammen.
Wie bewerten Sie die deutsche und westliche Außenpolitik gegenüber Syrien?
Die Deutschen haben die meisten syrischen Flüchtlinge aufgenommen. Dafür sind wir dankbar. Gleichzeitig wissen die Europäer und natürlich auch die Amerikaner genau, was in Syrien passiert – aber sie wollen sich nicht damit beschäftigen. Denn sie halten Syrien für unwichtig, weil es kein reiches Land ist. Aber das Gefährliche ist die politische, dschihadistische Dimension. Zu Anfang haben sie gedacht, prima, lass die ganzen Gotteskrieger nach Syrien gehen und dort sterben. Dann sind wir das Problem los. Doch indem sie Syrien aufgegeben haben, haben sie 100.000 Dschihadisten kreiert – und die Kontrolle über die Szene völlig verloren. Bis heute haben sie nicht ein Signal an Baschar al-Assad gesendet, den Krieg zu beenden.
Im Gegenteil, dadurch, dass eine Intervention ausgeschlossen wurde, hat er die grüne Karte bekommen.
Ich habe Anders F. Rasmussen immer wieder gewarnt: Seid doch einfach still, selbst wenn ihr nicht intervenieren wollt, sagt es einfach nicht. Aber sie konnten die Klappe nicht halten. Dabei ist klar, sie werden irgendwann intervenieren. Doch dann wird es für die Mehrheit der Syrer zu spät sein, und die Intervention wird nur noch die Minderheiten retten. Und das wird keinen Frieden bringen.
Warum hält die westliche Führung an Baschar al-Assad fest?
Weil sie Angst vor dem Wechsel haben. Das Problem der amerikanischen und europäischen Politiker ist es, dass ihnen jede außenpolitische Vision fehlt. Sie denken immer nur an die nächste Wahl. Deshalb halten sie krampfhaft am Status quo fest, obwohl der Nahe Osten gerade explodiert. Erinnern Sie sich an das Bild von dem napalmverbrannten, nackten Mädchen. Es hat die Welt verändert. In Syrien geht es Tausenden Kindern ähnlich, und die Welt schaut weg, weil sie Veränderung ablehnt. Aber Syrien hat die Region bereits völlig verändert, das lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Und ohne Frieden in Syrien wird der Krieg auf Jordanien, den Golf, Iran übergreifen. Irak und Jemen sind nur der Anfang.
Kann man dem Regime Zugeständnisse abringen?
Ich war 1981 in Hama, als der Vater von Baschar al-Assad dort innerhalb von 27 Tagen 40.000 Menschen töten ließ. Auch ich wäre fast gestorben. Dieses Regime verhandelt nicht. Das wissen auch alle. Im Westen wurde aber nicht verstanden, dass mit dem ersten Tag der Revolution, am 18. März 2011, das Sterben des Regimes begann. Heute gibt es keinen Staat mehr; deswegen setzt das Regime ja auf das Zerstörung und das Prinzip verbrannte Erde. Es ist nicht in der Lage, etwas aufzubauen.
Gibt es noch Leute, die etwas in Syrien aufbauen können?
Natürlich. Sobald die Waffen schweigen, werden sie wieder handeln können. Im Moment sind sie machtlos, aber sie werden Syrien wieder aufbauen.
Ist Syrien nicht längst in einzelne Regionen zerfallen?
Es wird dauern, doch Syrien wird wieder zusammenfinden. Aber je länger die USA mit der Intervention gegen das Regime warten, desto schwieriger wird es.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe