Menschenrechtler über Estemirowa-Mord: "Rassismus heißt hier Patriotismus"
Oleg Orlow, Vorsitzender der Organisation Memorial, erklärt, weshalb Tschetscheniens Präsident Kadyrow ein Problem ist, wie der Kreml Rassismus schürt und warum Wladimir Putin plötzlich Schakale mag.
taz: Herr Orlow, Präsident Dmitri Medwedjew zeigte sich über den Mord an der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa "bestürzt" und würdigte sogar die Arbeit russischer Menschenrechtler. Dergleichen hat man zuvor von der russischen Regierung nicht gehört. Was ist passiert?
Oleg Orlow: Der Ton ist ein anderer. Für uns war jedoch es fast wichtiger, dass Medwedjew das Beileidstelegramm direkt an unser Büro in Grosny geschickt hat. Unseren Mitarbeitern dort gibt es etwas Sicherheit. Aber ich weiß nicht, wie lange diese freundliche Haltung anhält.
Was lässt Sie zweifeln?
Die Signale sind widersprüchlich. Medwedjew hat die Version, dass für den Mord der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow verantwortlich ist, als "unannehmbar" zurückgewiesen. Damit erteilte er dem staatlichen Untersuchungskomitee einen deutlichen Auftrag, nicht in diese Richtung zu ermitteln. Juristisch ist diese Formulierung natürlich unhaltbar.
Vor kurzem galten Wladimir Putin Menschenrechtler als "Schakale, die um ausländische Botschaften herumschleichen". Jetzt verbreitet sein Pressesprecher, der Premierminister hege für sie "tiefen Respekt". Staatliche Fernsehsender halten plötzlich Elogen.
Der feige Mord hat weltweit Aufsehen erregt. Unsere Amtsinhaber mussten reagieren, um vom Image Russlands zu retten, was noch zu retten ist. Aber dieses Verbrechen kam unerwartet und war selbst für die sonst teilnahmslose Obrigkeit zu viel. Mit seinem Auftritt sandte Medwedjew den Sicherheitsstrukturen ein Signal, dass der Kreml ein derartiges Vorgehen gegen Menschenrechtler nicht mehr einfach so hinnehmen werde. Eine Tragödie musste passieren, bis man über uns wieder ein paar positive Worte verliert.
Oleg Orlow. Der heute 56-jährige Journalist gehörte 1988 zusammen mit dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow zu den Gründern von Memorial, der ersten nichtstaatlichen Organisation der Sowjetunion, die sich der Aufgabe widmete, den Terror der Stalin-Ära aufzuarbeiten.
In den Neunzigerjahren war er beim Menschenrechtsbeauftragten des Präsidenten tätig, stellte aber 1996 aus Protest gegen neuerliche autoritäre Tendenzen seine Mitarbeit ein. Dank Orlow nimmt Memorial beim Monitoring ethnischer Konflikte auf dem Territorium der früheren Sowjetunion eine wichtige Rolle ein.
Eine Woche nach der Ermordung der Bürgerrechtlerin Natalja Estemirowa sorgt in Russland der Tod eines weiteren Menschenrechtsaktivisten für Aufsehen. In der Teilrepublik Karelien an der Grenze zu Finnland wurde der Leiter der örtlichen Organisation "Gerechtigkeit", Andrej Kulagin, tot aufgefunden.
Kollegen vermuteten, dass Kulagin im Zusammenhang mit seinem Einsatz für einen humaneren Strafvollzug ermordet wurde, wie der Radiosender Echo Moskwy berichtete. Die Polizei bestätigte zunächst nur den Tod Kulagins, der bereits am 10. Juli in einer Sandgrube bei Petrosawodsk gefunden worden sei. Kulagin war seit dem 14. Mai vermisst worden. dpa
Sie haben Tschetscheniens Präsidenten Ramsan Kadyrow öffentlich mit dem Mord in Verbindung gebracht. Er will sie wegen Ehrabschneidung verklagen.
Ich begrüße es, wenn Kadyrow den Konflikt im juristischen Rahmen klären will, es gäbe ja auch andere Mittel. Ich stehe zu meiner Aussage und bin bereit, mich dafür zu verantworten.
Wird der als "Held Russlands" dekorierte Kadyrow zum Problem?
Er wird es nicht erst, er ist es schon. Natalja wurde in Tschetschenien ermordet. Auch wenn Kadyrow es nicht selbst gewesen sein sollte, den Boden hat er bereitet und Russland dadurch kolossalen Schaden zugefügt.
Memorial will die Arbeit in Grosny einstellen. Was bedeutet das für die Menschen in Tschetschenien?
Die Entscheidung ist uns sehr schwer gefallen, viele Mitarbeiter waren auch dagegen. Natürlich hat es Folgen für die Bevölkerung, wenn es keine Stelle mehr gibt, an die sich Opfer wenden können. Wir unterbrechen die Arbeit aber nur vorübergehend. Grundsätzlich müssen wir überlegen, unter welchen Bedingungen wir weitermachen können.
Welche könnten das sein?
Dazu gebe ich keinen Kommentar. Aber laufende Fälle und Verfahren werden wir weiterführen, ebenso die anhängigen Klagen vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Außerdem arbeiten wir an der Datenbank weiter, die mehr als 3.000 Fälle von Vermissten und Entführten enthält.
Wie viele Menschenrechtsaktivisten wurden in den letzten Jahren im Kaukasus ermordet?
Es müssen mehr als ein Dutzend gewesen sein. Darunter auch Journalisten und Oppositionelle. Ein Fall erinnert übrigens sehr an die Verschleppung Estemirowas. Magomed Massajew war entführt worden und saß in einem "privaten" Gefängnis. Kadyrow tauchte dort auch auf und sprach mit den Gefangenen. Drei ließ er schließlich frei, darunter Massajew. Der erstattete daraufhin Anzeige gegen Kadyrow, die von seinem Anwalt Stanislaw Markelow vor Gericht gebracht wurde. Im August 2008 wurde Massajew verschleppt und ist seither verschwunden. Markelow wurde im Januar in Moskau von Unbekannten erschossen.
Angeblich soll die Machthaber in Grosny besonders aufgeregt haben, dass Estemirowa über eine öffentliche Erschießung berichtete.
Estemirowa hat eine Serie von Entführungen und Morden in den letzten Monaten aufgedeckt und konnte belegen, dass die Sicherheitsstrukturen wieder zu Sippenhaftung übergehen. Immer häufiger wurden Häuser von Verwandten vermeintlicher Rebellen, Fundamentalisten oder einfach Gegnern in Brand gesteckt.
Die öffentliche Erschießung Riswan Albekows brachte das Fass vielleicht zum Überlaufen. Er war zusammen mit seinem Sohn entführt worden. Als sie nicht gestehen wollten, Kontakte zu Banden in den Bergen zu unterhalten, wurde der Vater auf offener Straße als Warnung erschossen. Nach dem Mord an Estemirowa soll der Sohn freigelassen worden sein.
Worauf ist die Eskalation der Gewalt zurückzuführen?
Längere Zeit galt Tschetschenien als Erfolgsgeschichte. Grosny wurde wiederaufgebaut. Das Regime rühmte sich, ein Hort der Stabilität im Kaukasus zu sein. Nataljas Enthüllungen belegen das Gegenteil. Die Führung ist verunsichert, weil sie mit dem Widerstand im Untergrund nicht fertig wird. Anfangs klappte es noch. Sie konnten den harten Kern aber nicht vernichten. Und der kann mühelos junge Leute rekrutieren. Das Bild von Stabilität bröckelt, und deshalb kehren sie zu den alten Methoden zurück.
Das Regime rechtfertigt sich damit, dass die Gegner alle militante Islamisten seien.
In der Tat haben Fundamentalisten die Stelle der Separatisten eingenommen. Zu ihnen stoßen junge Leute, die sich rächen wollen, weil ihnen Gewalt angetan wurde oder sie sich ungerecht behandelt fühlen. Da es keine Möglichkeit gibt, sich politisch oder in der Presse zu wehren, greifen sie zu den Waffen.
Im Wesen sind sie nicht anders als die Terroristen unterm Staatsdach. Auch sie sind gewalttätig, auch an ihren Händen klebt Blut. Mit solchen Leuten kann man schon deswegen nicht verhandeln, weil sie ein utopisches Ziel verfolgen, die Schaffung eines islamistischen Staates. Aber die Vorwürfe, dass alle Terroristen seien, sind pauschal. Und wenn der Staat Terror verübt, leiden auch Unschuldige darunter.
Mit der Präsenz in Tschetschenien unterstrich Memorial ganz im Sinne des Kreml, dass die Republik zu Russland gehört. Kaum eine andere russische Institution befindet sich noch vor Ort. Bedeutet der Abzug, dass sich die Republik weiter von Moskau ablöst?
Der Bruch wird sich unweigerlich vertiefen. Ich glaube nicht an eine staatliche Unabhängigkeit, aber die Republik wird im Rahmen der Föderation wegdriften. Seit der Aufhebung des Sonderregimes im Frühjahr verlassen die letzten Vertreter russischer Staatlichkeit die Region. Das war immer das Ziel der Führung in Grosny.
Gibt es im Fall Estemirowa neue Erkenntnisse?
Wir wissen noch nichts. Klar ist wohl, dass die Täter Dienstausweise besaßen, mit denen sie Straßensperren und die Grenze zu Inguschetien passieren konnten.
Die Trauerfeier in Grosny wurde von der Miliz überwacht. Nur wenige Bürger wagten es, an der Beerdigung teilzunehmen.
Die Miliz wollte verhindern, dass der Trauerzug ins Zentrum Grosnys zieht. Die Verwandten wollten auch keine Konfrontation. Angst und Schrecken herrschen, darauf fußt das Regime. Leute, die früher aktiv waren und Kadyrow kritisierten, sind heute nicht mehr dazu bereit. Sie fürchten Repressalien. Einige wurden gekauft, andere eingeschüchtert, andere wiederum wollen das eigene Nest nicht beschmutzen.
Nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja waren die Bloggs voll mit Hasstiraden gegen "russische Nestbeschmutzer". Die öffentliche Anteilnahme hielt sich in Grenzen
Viele in Russland halten uns Menschenrechtler für Verräter. In den Bloggs spielt sich nach Nataljas Tod das Gleiche ab wie damals. Diese Auffassung wurde von der Obrigkeit gefördert. Nach dem Motto: Russland erhebt sich aus Ruinen und die arbeiten mit Ausländern zusammen, die Russland schwächen wollen.
Der Kreml hat sehr viel Geld in Jugendorganisationen gesteckt, die diese fremdenfeindliche Ansichten züchteten. Man sollte annehmen, nach dem Fall des Kommunismus sei die Jugend freier und könne selbständiger denken. Im Gegenteil, die Jugend wurde gekauft, alles ist erlaubt, auch Rassismus und Gewalt gegen Andersdenkende. All das firmiert als Patriotismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass