Menschenhandel auf dem Bremer Marktplatz: Post von der Ware Mensch
Ein temporäres Kunstprojekt auf dem Marktplatz zeigt historische und aktuelle Zwangsprostitution als strukturelles Problem.
BREMEN taz | Im Halbdunkel des abendlichen Marktplatzes stehen rund 50 Menschen um einen kleinen Pavillon und blicken schweigend auf eine Leinwand. Die meisten zählen zur Kunstszene – sind eingeladen. Sonst ist an diesem Freitagabend nicht mehr viel los: Ein paar späte Einkäufer eilen noch in Richtung Domsheide, eine Bollerwagentour hat sich grölend auf der Domtreppe ausgebreitet.
In dem projizierten Film ist eine Hand zu sehen, die kurze Sätze schreibt: „Er sagte, ich sei die Schönste“, heißt es. Das klingt nach enttäuschter Romanze – und man muss nicht misstrauisch sein, um hier die Masche eines Verführers zu vermuten.
Tatsächlich ist es weit schlimmer als das: In diesem Projekt der Künstlerin Elianna Renner und Studierenden der Hochschule für Künste geht es um Menschenhändler, die junge Frauen aus der verarmten Provinz in die Zwangsprostitution locken. Alle Briefe sind echt, doch die historischen Texte mischen sich mit Berichten von heutigen Zwangsprostituierten. Renners Langzeitprojekt „Tracking the Traffic“ widmet sich der ästhetischen Aufarbeitung solcher unfreiwilligen Migrationsbewegungen – ausgehend vom Schicksal vorwiegend jüdischer Frauen aus Osteuropa, die seit den 1860er Jahren verschleppt wurden.
Die Schilderungen in den Briefen werden dramatischer: Berichte von Schlägen und Nahrungsentzug als Strafe fürs Weinen. Spätestens hier wird klar, dass es nicht um geplatzte Affären geht, sondern um handfestes Unrecht. Und als die gleiche Projektion der gleichen Briefe plötzlich nach Polit-Veranstaltung riecht, ziehen sich einige spontane Zuschauer unauffällig zurück.
Dabei bittet hier niemand um Unterschriften oder Spenden – es gibt nicht einmal Parolen, die sich mitrufen ließen. Übrigens auch keine Zahlen, Karten oder andere Versuche, die Dimension des Menschenhandels darzulegen. Es gibt nur diese kurzen, vergleichsweise harmlosen Sätze: „Er hat meinen Eltern versprochen, dass er auf mich aufpasst.“
Mit dieser Aktion auf dem Marktplatz startet die Veranstaltungreihe „Ordnung/Struktur“ des Frauen-Kultur-Labors „Thealit“. Der Projektname „27. 02. Marktplatz“ lässt sich als Koordinaten-Angabe verstehen: Zeit und Ort als Ansatz, gesellschaftliche Strukturen nachzuvollziehen. Damals entstand unter der weltweiten Präsenz von Seeleuten und Kolonial-Soldaten ein Markt für europäische Mädchen.
Heute ist er endgültig globalisiert und die menschliche Fracht wird auf der ganzen Welt umgeschlagen. Der Marktplatz ist dabei mehr als ein Symbolort für den Warentausch. Bremen war historisch tatsächlich eine zentrale Station für Tausende Mädchen, die aus Osteuropa kommend ihr Glück in der Neuen Welt machen wollten.
Zwischendurch ist eine Männerstimme aus den Lautsprechern zu hören, die ruhig und sachlich von den Machenschaften eines Mädchenhändlerrings berichtet. Es ist ein Vortrag des Bremer Rabbiners Leopold Rosenak, der Anfang des 20. Jahrhunderts vor den Menschenhändlern und ihren Tricks warnte. Man könnte es für einen Text von heute halten, wenn da nicht die altertümliche Sprache wäre – wenn Rosenak etwa von Frauen spricht, die versuchen, „errötend ihr Antlitz zu wahren“. Der Rabbiner hat sich weit über Bremen hinaus für die ostjüdischen Emigranten, insbesondere für die allein reisenden Frauen engagiert.
Zum Schluss lösen sich zehn Gestalten in Brautkleidern aus dem Zuschauerpulk und bauen sich vor der Leinwand auf. Auf ihren Rücken erstrahlt die Pointe des halbstündiges Programms: „Die Nachfrage bestimmt das Angebot.“ So hat schon der Krisen-Ökonom John Maynard Keynes die klassische Volkswirtschaftslehre auf den Kopf gestellt. Doch während ihn noch die Frage plagte, wie der Staat notfalls die Konjunktur anzukurbeln habe, geht es hier um Schuld – und um Freude, wenn der internationale Menschenhandel wegen ausbleibender Nachfrage zusammenbräche.