UNSOUVERÄNER LEITARTIKEL ZUM KIRCHENTAG
Werter Herr Cloes, Herr Feddersen und Herr Gessler!
Aus Ihrem Kirchentags-Résumé vom 6.6. (TAZ S. 3) klingt durch, dass Sie
unter der „bürgerlichen Mittelschicht“ beim „pompösen Christentreffen“
sehr gelitten haben. Welche Qual!
Mich stört als Abonnentin und protestantische Christin, dass einzelne
TAZ-AutorInnen –neben sonst guter politischer
Hintergrundberichterstattung- immer wieder religiöse Intoleranz und
emotionale Querschläge gegen Glaubende und Vertreter verschiedener
Weltreligionen –z.B. auch den Dalai Lama- zu Papier bringen. Das ist
unsachlich, selbstgerecht und unsouverän.
Ich erlebe seit 1987 den ev. Kirchentag als Ort der respektvollen
Auseinandersetzung zwischen verschieden Glaubenden, Kulturen und dem
Ringen um ethische Antworten auf gesellschaftliche Fragen.
Natürlich stößt manches auf, wenn z.B. Deutschlands derzeit oberster
Umweltpolitiker 2010 beim ökumenischen Kirchentag zu einer
Dialogbibelarbeit über Bewahrung der Schöpfung geladen ist und wenige
Monate später -voraussehbar- die Atomkraftwerkslaufzeiten verlängert. Oder
strukturelle Anachronismen auf katholischer Seite wie Zölibat, Verbot der
Priesterweihe von Frauen, Stagnation beim ökumenischen Abendmahl oder
langes Zögern der Führungsebene, sich für einen Atomausstieg stark zu
machen. Und ChristInnen sind ebenso wütend über Pädophilie-Skandale
innerhalb wie außerhalb der Kirche.
Aber beim Kirchentag treffen sich alle zwei Jahre an der Basis Glaubende
und Zweifelnde verschiedener Strömungen, die den Dialog über Grenzfragen
suchen und für sich beanspruchen, dass sie die Gesellschaft mitgestalten
wollen und von den Regierenden Verantwortung einfordern. Und die einfach
mal auftanken wollen und sich freuen an Kunst und Musik von Klassik und a
capella über 5000 BlechbläserInnen bis Rock. Viele dieser Menschen sind in
ihrem lokalen Kontext in und außerhalb von Kirchen engagiert: musikalisch,
politisch, ökologisch, theologisch, interkulturell, für Flüchtlinge, für
Sterbende und Trauernde, für Gerechtigkeit, sowie für Toleranz gegenüber
verschiedenen sexuellen Orientierungen.
Unpolitischer Kirchentag? Sie nennen selbst die verabschiedeten
Resolutionen. Ich nahm an einem Finanzpodium teil, bei dem der Deutsche
Bank-Vizechef ausgebuht wurde wegen der Finanzierung von Streubomben und
Uranbergbau. Bei meinen Gastgebern waren mehr die Wende und die
ostdeutsche Umweltbewegung Gegenstand des Austausches als die Religion.
Ihrem zynischen Artikel mangelt es an Toleranz und Hoffnung, und Sie
machen kein klares, konstruktives Gegenangebot, wie Sie die Menschen
positiv abholen wollen.
Polemisieren ist leicht – motivieren Sie!
Ich finde es übrigens richtig, dass die TAZ auf Kirchentagen
Gratisexemplare verteilt, um um weitere Abonnentinnen bei den gerade noch
verhöhnten bürgerlichen Mittelschicht-ChristInnen zu werben (Frage an
@opentaz: zählen sich TAZ-Redakteure denn zur Ober-/Unterschicht? Oder
sollten wir das Schichtdenken langsam mal überwinden?).
Und a propos Ethik: verschonen Sie uns TAZ-LeserInnen vor der nächsten
Anzeigenserie des Informationskreises Kernenergie.
Gandhi kannte als in sich ruhender Hindu das Christentum besser als
mancher Christ. Und Gorbatschov soll dem Papst mal auf die Frage, ob er
wirklich Atheist sei, geantwortet haben: „Ja, aber kein missionarischer!“.
Solche Souveränität wünsche ich mir von der TAZ.
Mit freundlichen Grüßen,
Ulrike Bickel, Hamburg
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