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Mengistu aus Äthiopien geflohen

■ Vizepräsident Tesfaye Gebre-Kidan tritt Nachfolge des Geflüchteten an/ Rebellen 65 Kilometer vor Addis Abeba/ Kommenden Montag beginnen in London nach 30 Jahren Krieg die Friedensgespräche

Addis Abeba/Berlin (ap/taz) — Nach 14 Jahren unumschränkter Herrschaft ist der äthiopische Staatschef Mengistu Haile Mariam am Dienstag zurückgetreten und unter dem Druck der vorstoßenden Rebellentruppen in die Hauptstadt Kenias, Nairobi, geflohen. Wie Radio Addis Abeba weiter meldete, übernahm General Tesfaye Gebre-Kidan, bisher Vizepräsident und Kommandant der Zweiten Revolutionsarmee in der eritreischen Hauptstadt Asmara, bis auf weiteres die Regierungsgeschäfte. Sprecher der beiden größten Rebellenorganisationen kündigten eine Fortsetzung der Kämpfe an. Ob die unter Vermittlung der USA einberufenen Friedensgespräche der Bürgerkriegsparteien wie geplant am kommenden Montag in London beginnen, ist noch fraglich.

„Wir kämpfen seit 30 Jahren um das Recht auf Selbstbestimmung“, sagte ein Sprecher der Volksbefreiungsfront Eritrea (EPLF). „Wir hoffen, daß dieses Ereignis zum Ausgangspunkt eines wirklichen Wandels in Äthiopien wird. Für die Revolutionäre Demokratische Front des äthiopischen Volkes (EPRDF), die das bis 1989 massiv von Moskau unterstützte Regime von der Nordprovinz Tigre aus bekämpft, erklärte deren Sprecher in London: „Wir kämpfen gegen das System, nicht gegen ein Individuum.“

Mit seinem Rücktritt reagierte Mengistu offenbar auf den Vormarsch der Rebellentruppen in Tigre und Eritrea, die sich der Hauptstadt Addis Abeba nach eigenen Angaben bis auf 65 Kilometer genähert haben. Seit Februar hatten die Aufständischen in Tigre die Herrschaft über zwei Provinzen im Nordwesten erobert und waren weit in drei andere Provinzen vorgestoßen. In der vergangenen Woche leiteten sie ebenso wie die für die Unabhängigkeit Eritreas kämpfende Guerilla eine neue Offensive ein — offenbar um sich eine noch bessere Verhandlungsposition für die Londoner Gespräche zu verschaffen.

Mengistu gehörte zur Gruppe philosowjetischer Offiziere, die 1974 Kaiser Haile Selassie stürzten. Noch im selben Jahr wurde er Vizepräsident des Provisorischen Militärverwaltungsrates, putschte gegen den neuen Präsidenten, General Andom, und ließ ihn wie eine Reihe weiterer Offiziere hinrichten. Nachdem Mengistu, längst der eigentliche Machthaber des Landes, drei Jahre später auch Andoms Nachfolger, Staatspräsident Teferi Bante, füsilieren ließ, machte er sich 1977 selbst zum Staats- und Regierungspräsidenten und errichtete eine Diktatur von Breschnews Gnaden, die politische Gegner grausam unterdrückte. Mit Landverteilung und Bildungskampagnen erlangte sein Regime jedoch besonders in der bäuerlichen Bevölkerung zeitweilig Unterstützung. Erst vor einem Jahr ließ er die gigantischen Marx- und Engels-Porträts, die neben seinem eigenen Konterfei den „Platz der Revolution“ in der Hauptstadt schmückten, beseitigen. Als er vor einem Monat seinen Rücktritt anbot, wurde dies von vielen als billiger taktischer Schachzug abgetan. Sein Rücktritt von gestern kam völlig überraschend.

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