Memmingen

Das Urteil des Landgerichts in Memmingen gegen den Frauenarzt Dr.Theissen hat die Bürgerinnen - und diese vor allem -, aber auch die Bürger der Republik erschüttert. Viele glaubten, ein solches Verfahren, ein solches Urteil sei heute nicht mehr denkbar. (...)

1. Der heutige Gesetzesstand ist dadurch gekennzeichnet, daß im § 218 der Schwangerschaftsabbruch mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist. Zum Vergleich: Ein einfacher Diebstahl, auch ein Ladendiebstahl kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden. Praktisch mag dies nicht von großer Bedeutung sein; es zeigt aber die Wertentscheidung des Gsetzgebers und die Einordnung in das Strafsystem, an die der Richter gebunden ist.

In § 218 a sind alsdann die Fälle (Indikationen) aufgeführt, in denen ein Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn „nach ärztlicher Erkenntnis“ der Abbruch der Schwangerschaft (sonst) angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die

a) so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann und

b) nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann.

Es liegt auf der Hand, daß diese Gesetzesfassung einen weiten Beurteilungsspielraum öffnet. Es obliegt dem Arzt und nicht dem Richter („nach ärztlicher Erkenntnis“), ihn auszufüllen.

In den §§ 218 b und 219 wird ein Arzt mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht, der einen Schwangerschaftsabbruch ohne vorherigen Besuch einer Beratungsstelle durch die Schwangere oder das Gutachten eines zweiten Arztes vornimmt. Zum Vergleich: Es gibt kaum einen Tatbestand mit einer so geringen Strafdrohung; die Beleidigung ist zum Beispiel mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht. Wir befinden uns also nahe dem Bereich der Ordnungswidrigkeiten.

2. Die Straffreiheit nach § 218 hängt lediglich davon ab, ob die Indikationen des §218 a vorliegen, aber nicht davon, ob die Beratung oder die Begutachtung durch einen anderen Arzt stattgefunden hat. Ein Schwangerschaftsabbruch bei deren Fehlen ist ein der Ordnungswidrigkeit benachbarter Sonderstraftatbestand. Unabhängig von dem persönlichen Schicksal des Arztes Dr.Theissen liegt die Bedeutung des Memminger Urteils in zwei Punkten.

-Die Strafkammer hat gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes („nach ärztlicher Erkenntnis“) ihre Auffassung, wann eine Indikation vorliegt, an die Stelle der des Arztes gesetzt. Wenn sich dieser Standpunkt (auch in der Revision) durchsetzt, läuft jeder Arzt, der einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt, Gefahr, daß die Indikation später von einem Gericht anders beurteilt wird, das heißt Schwangerschaftsabbrüche sind für die Ärzte - entgegen dem Gesetzeswortlaut - durch das Urteil in Memmingen bewußt mit einem unerträglichen Risiko belastet.

-Das Gericht hat mit seinem Strafmaß in der Tat „Maßstäbe“ gesetzt, die mit der gesetzlichen Einordnung der Schwere der Straftat nicht in Einklang stehen.

3. Unabhängig vom Ergebnis hat allein das Verfahren und seine Scheußlichkeit den Angeklagten Dr.Theissen ruiniert. Das Gericht hat sich zwar formal innerhalb der Prozeßordnung gehalten. Gerade deshalb aber ist es bedrückend, daß wir keine Möglichkeit kennen, einen Angeklagten hier zu schützen. Gewiß wäre es falsch, die Richter in Memmingen mit Blutrichtern des Dritten Reiches gleichzusetzen. Gleich aber ist die Verachtung der Menschenwürde des Angeklagten bei der Durchsetzung einer Ideologie, dort einer politischen, hier einer kirchlichen.

4. Gewiß kann man die Ideologie des Nationalsozialismus und die der (katholischen) Kirche nicht gleichsetzen; sie haben sich streckenweise sogar wie Feuer und Wasser zueinander verhalten. Und doch fallen Gemeinsamkeiten auf: beiden gemeinsam ist der rücksichtslose Kampf gegen jeden Schwangerschaftsabbruch; noch nie waren die Strafen bei Schwangerschaftsabbrüchen so hoch wie in der NS-Zeit. Wollen die Gegner heute zum Strafmaß der NS-Zeit zurückkehren?

Ich könnte für die Position auch der heutigen Abtreibungsgegner Verständnis aufbringen, da man in der Tat zum Schwangerschaftsabbruch sehr unterschiedlicher Auffassung sein kann, wenn die Einstellung nicht anscheinend zwangsläufig bei vielen von ihnen mit einer Menschenverachtung gegenüber dem geborenen Leben verbunden wäre.

Als Kinder faßten wir die Einstellung der Nazis (unter Anspielung auf deren Todesstrafenpraxis und einen Werbespruch der Deutschen Reichsbahn) in dem Spottvers zusammen: „Köpfe müssen rollen für den Sieg / und Kinderwagen für den nächsten Krieg.“ Und heute: Papst Wojtyla reist durch die Entwicklungsländer und predigt im Angesicht verhungernder Kinder gegen jede Empfängnisverhütung.

Und heute: Richter Albert Barner ruft bei der Verkündung des Urteils gegen den Arzt Dr.Theissen: „Wer hat denn da ein Radio oder Kind dabei? Gehen Sie raus!“

Ich bin sicher: Der Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche ist nicht in der Liebe zum Menschen begründet: Wenn es einen Teufel geben sollte, wie Wojtyla glaubt: Hier ist er am Werk!

Ulrich Vultejus, Richter, Bundesvorsitzender der Humanistischen Union

In Memmingen hat laut Berichterstattung Richter Barner während der mündlichen Urteilsbegründung gerufen: „Wer hat hier ein Radio oder ein Kind dabei?“ Spätestens jetzt ist klar: Um das Kind, um das „werdende Leben“ ging es in Memmingen nicht einmal an letzter Stelle.

Geborene Kinder als lebende, anspruchsvolle Wesen sind im öffentlichen Raum in, während und sicher auch nach Memmingen Störfaktoren.

Wir Frauen sollen sie (selbstlos, versteht sich) unauffällig zu erwachsenen brauchbaren Menschen machen.

Ich verachte diesen Richterspruch und wehre mich dagegen, daß Horst Theissen - ebenso wie die betroffenen Frauen - „im Namen des Volkes“ verurteilt wurde. Dieser Spruch ist sowieso eine Anmaßung. Aber hier kotzt er mich besonders an.

Gesa Ebert, Stuttgart

Dieser Prozeß in Memmingen hat verschiedene Ebenen, auf denen man/frau sich Gedanken dazu machen kann.

1. Da die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens offensichtlich noch nicht geklärt ist, begibt sich eine Frau mit dem Entschluß zur Abtreibung schon in die Öffentlichkeit. Zumal sie ja zur Durchführung der Abtreibung jemand anderen bitten muß. Diese anderen Personen sind ÄrztInnen und medizinisches Hilfspersonal, die entscheiden müssen. Sie müssen entscheiden, ob Leben vorhanden ist oder nicht, ob eine Begründung zur Abtreibung vorhanden ist oder nicht, und sie müssen die Abtreibung vornehmen. Es entsteht eine Beziehung, in der die Wertvorstellungen vom Beginn des menschlichen Lebens bei allen beteiligten Personen gleich sein müssen. Unter Umständen waren sie (die Wertvorstellungen) aber auch gleichgemacht dadurch, daß die einen davon finanziell leben wollen und die anderen sich über die Ursachen ihres Verhaltens keine Gedanken machen. (...)

2. Bei diesen Schwangerschaftsirrtümern von Frauen stimmt doch anscheinend landauf/landab etwas nicht mit der Aufklärung oder dem Umgang mit Sexualität. Wie wäre denn folgende Sichtweise: Es gibt überhaupt keine sicheren Verhütungsmitel, die Pille kann vergessen werden, die Schwangerschaft trotz Spirale hat es auch schon gegeben und die trotz Präservativ auch. Das einzig sichere scheint die Sterilisation zu sein. Da es aber auch bei diesem ziemlich endgültigen Eingriff schon Ausnahmen gegeben hat, ist so eine Schwangerschaft eigentlich wie ein Wunder. Oder sieht das jemand anders?

3. Dieser § 218 gibt einer Frau die Möglichkeit, bei einer Person sich den Grund für eine Abtreibung bestätigen zu lassen, eine weitere Person führt die Abtreibung durch, und das Ganze wird von der Kasse bezahlt. Daß dabei ein Zeitraum eingehalten werden muß, finde ich wichtig, denn es ist sicher kein Vergnügen, eine Abtreibung vorzunehmen, und schon gar nicht, wenn die Gestaltung und Bildung eines Menschen weiter fortgeschritten ist. Ob diese Angelegenheit nun durch die Abschaffung des § 218 besser zu regeln ist, weiß ich nicht. Ich würde sagen, die Abtreibung sollte überflüssig gemacht werden. Eine Einschränkung würde ich allerdings machen, zum Beispiel bei Schwangerschaft nach Vergewaltigung (...).

Franziska Bork

Das Memminger Urteil war zu erwarten; dennoch sind wir § 218 -Gegnerinnen geschockt und blockiert. Doch unsere Wut wird uns Kraft geben und wir werden uns wehren. Die Herrschenden in Kirche und Staat werden sich wundern: „Wartet nur, balde...!“

Renate Wußing, Braunschweig

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