Meine Wende: Wie ich den Mauerfall verhindern wollte
Am 9. November 1989 war ich zehn Jahre alt und entsetzt über den Kollaps der DDR. Ich musste also die Verteidigung der Heimat selbst in die Hand nehmen.
Ich weiß nicht mehr, ob ich an diesem Tag Vogelfutter aß oder diese kleinen Pfefferminzplättchen oder eine dieser anderen Süßigkeiten, die es im Konsum gab. Ich weiß nicht mal mehr, was für ein Tag es genau war. Ich erinnere mich sicher nur an eines: an den Hass.
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Kauend stand ich vor dem Fernseher und sah Menschen in Schwarz-Weiß demonstrieren. Sie schrien: "Wir sind ein Volk!" Es ging schon ein paar Tage so, hatte ich vorher in der Schule gehört. Bisher ignorierte ich die Proteste und redete mir ein, das sei nicht so wichtig. Ich fühlte mich unbehaglich bei dem Gedanken, dass andere Menschen etwas zerstören wollten, mit dem ich mich sehr wohl fühlte. Aber jetzt sah ich durch Zufall die Demonstrationen, mein Vater lag auf unserer Sitzecke in der Küche und guckte sich die Nachrichten an.
"Sind das die?", frage ich ihn.
"Hmm, die protestieren gegen die Regierung", antwortet er und gähnt.
"Verräter", sage ich.
"Was?", fragt er.
"Nichts", sage ich. "Was wollen die denn? Haben die nicht genug zu essen, oder was?"
Da sieht mein Vater mich ganz seltsam an und schaut wieder zum Fernseher.
Er erinnert sich nicht mehr an dieses Gespräch, deshalb kann er mir auch nicht sagen, was er damals gedacht hat. Ich weiß es noch. Mein Körper brannte innerlich vor Hass auf die, die alles kaputtmachen wollten, womit ich lebte. Auf meinen Vater, weil der nichts tat. In China hatte die Regierung ein paar Monate zuvor den Protest von Panzern niederwalzen lassen. Das wollte ich auch.
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Mein Vater war damals Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee. Bevor er meine Mutter kennen lernte, hatte er in Eggesin ein Panzerbataillon kommandiert. 31 T-72, inklusive seinem eigenen. Wo wir zu der Zeit des Mauerfalls wohnten, leitete er das Wehrkreiskommando, man nannte es nur kurz WKK. Heute heißt das Kreiswehrersatzamt. Eigentlich war nicht er der richtige Chef, sondern ein Oberst. Allerdings war der ständig krank und mein Vater sein Stellvertreter. Im Fall eines Angriffs der Nato wäre er für die Verteidigung des Kreises zuständig gewesen. Aber er verteidigte mich nicht. Dafür habe ich zwei Monate lang nicht mit ihm gesprochen. Nur wenn ich musste.
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Wir trafen uns in Klein-Moskau. So nannten wir eine Ansammlung alter Bretterbuden und Ställe am Rande des Dorfes. Später habe ich dort das Tagebuch verbrannt, in dem ich diese Geschichte schon einmal aufgeschrieben habe. Ich hatte mich zu sehr geschämt. Deshalb bleiben mir nur Splitter von Erinnerungen. Wir waren fünf. Marco, Rico, Ronny, Kai und ich. Marco sagte: "Wenn Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputtgemacht hätte, dann könnten wir da drüben ganz einfach aufräumen." Marcos Vater fuhr Kräne. Nach ein paar Bieren erzählte er uns hinten bei den Garagen, wie er als Soldat bei Stalingrad gegen die "dreckigen Russen" gekämpft habe. Erst als ich älter war, fiel mir auf, dass das unmöglich war. Marcos Vater war viel zu jung. Damals aber sagte ich: "Was hat denn die Wehrmacht damit zu tun, du Spast, wenn es die noch gäbe, wären wir doch gar nicht hier."
Marco will wie immer rumdiskutieren, aber ich schneide ihm einfach das Wort ab: "Wir müssen uns selbst etwas einfallen lassen", sage ich, "und ich weiß auch schon was."
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Mein Plan war einfach: Es musste Krieg geben. Nur so war der Westen zu besiegen. Dass es anders nicht ging, war mir im Innersten klar, das weiß ich heute. Zwei Fragen hatte ich mir schon länger gestellt: 1. Wenn die DDR so überlegen war, wieso besaßen die drüben Matchbox-Autos und nicht wir? 2. Warum hatten wir keine Autokarten? Das waren Spielkarten mit Bildern von Fahrzeugen, nicht nur Autos, sondern auch Boote oder anderes. Unter den Fotos standen Werte wie Kilometer pro Stunde oder Hubraum. Hubraum hieß wegen der Abkürzung "ccm" immer CC-Mücken. Jeder der beiden Spieler hatte ein Kartenpäckchen und man verglich die Werte. "1.988 CC-Mücken."
"Ach Mann, immer hast du den Roten. Ich hab nur 1.234."
Wer höher lag, gewann und bekam die Karte des Gegenspielers.
Das ging so lange, bis einer keine Karten mehr hatte.
Wir spielten ständig und wir sprachen oft über diese Karten. Besonders darüber, dass sie aus Altenburg kamen. Altenburg lag nämlich eindeutig in der DDR. Unter uns Jungen kursierte die Geschichte, dass wir unsere Autokarten an den Westen verkaufen mussten, weil die DDR kein Geld hatte. Das hatte irgendjemand von den Erwachsenen mal erzählt. Als ich das zum ersten Mal hörte, wurde ich wütend und erklärte den Jungs, die Geschichte sei eine Lüge. Der Westen würde unsere Autokarten nur deswegen kaufen, weil sie selbst zu blöd seien, welche herzustellen. Fast glaubte ich das selbst. Aber ich fragte mich dauernd, wieso die Regierung nicht ein paar Autokarten für uns übrig ließ. Wenigstens die doofen mit den blöden Segelschiffen.
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Es musste also Krieg geben. Unsere Armee würde siegen, da war ich ganz sicher. Mein Vater hatte mir viele dieser kleinen Hefte mit nach Hause gebracht, welche die NVA zu Werbezwecken verteilte. Ich kannte unsere Brückenlegepanzer und Maschinengewehre, die Hubschrauber und den T-72. Ich wusste die Schulterklappen und Dienstgrade von fünf Staaten des Warschauer Paktes auswendig. In Vaters Dienststelle erzählten die Soldaten öfter, dass die im Westen nur so eine Feierabendarmee hätten, die um 17 Uhr am Freitag nach Hause ging. "Bis zur Donau ist alles klar", hatte mir mal einer von Vaters Kollegen erzählt.
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Aber die Armee griff nicht an. Alles fiel zusammen, aber sie taten nichts. Mir war klar, und das erklärte ich auch den Jungs, dass deshalb wir etwas tun mussten. Und ich wusste auch was: Im Wehrkreiskommando gab es eine Waffenkammer. Maschinenpistolen standen da drin und anderes beeindruckendes Zeug, an das ich mich nicht mehr erinnere. Diese Waffenkammer war dreifach gesichert. Zuerst kam eine feuerfeste Stahltür mit einem Sicherheitsschloss. Dann eine Gittertür mit einem Vorhängeschloss. An der Tür war zusätzlich ein Siegel angebracht, so eine Art Fleck aus Knete, der jedes Mal brach, wenn man die Tür aufmachte.
"Ich weiß wo die Schlüssel liegen", sage ich. "Wir müssen da rein."
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Damals wusste ich nicht, dass der Schlüssel meistens nicht einfach so rumlag. Er war in einem extra Kasten verstaut, erzählte mein Vater mir später, zu dem er und einige andere wiederum einen Schlüssel hatten. Ein Knetsiegel gab es auch hier.
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"Und was soll dann passieren", fragt Kai, "sollen wir an die Grenze fahren und rüberballern, oder was?" Kai ist nicht zuverlässig, das weiß ich schon länger. Dauernd quatscht er von seiner Cousine aus dem Saarland und wie süß die ist. Ich hätte ihn eigentlich nicht gefragt. Aber sein großer Bruder hat ihm beigebracht, Auto zu fahren. Für den Notfall brauche ich ihn.
"Wir müssen nach West-Berlin", sage ich, "mit einer Pistole. Dann schießen wir auf irgendwen. Die Polizei drüben wird dann auf uns schießen.Und weil unsere das natürlich nicht zulassen können, schießen die zurück. Bis zur Donau ist alles klar", sage ich. "Wir werden gewinnen." Kai widerspricht: "Die Mauer steht doch noch." Und ich sage: "Nicht mehr lange, wenn die so weitermachen." Vielleicht klingt das heute seltsam gewiss. Aber das Gefühl des Verfalls war für uns zu dieser Zeit absolut greifbar. Kai versucht es noch einmal: "Aber die werden uns abballern."
"Wir sind zehnjährige Kinder", sage ich, "die schießen auf die Beine."
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Die Makarow war die Standardpistole der Streitkräfte der DDR. Dunkel, brüniert. Kaliber neun Millimeter. Sieben Schuss. Noch einen zusätzlichen, wenn eine Patrone schon im Lauf war. Ich wusste, dass ich die Pistole halten konnte, ein-, zweimal hatten mir Vaters Kollegen ihre gegeben. Nicht entsichert natürlich. Sie hatten mir auch gezeigt, wie man so schoss, dass man den Rückstoß abfing. Rico der Idiot verlangt, dass wir eine MPi klauen. "Hast du nicht aufgepasst, als mein Vater die Kalaschnikow in der Schule gezeigt hat?", frage ich ihn. "Der Rückstoß haut dich glatt zurück bis hierher."
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Ich habe ihnen alles erklärt. Wir würden zu fünft ins WKK gehen und meinen Vater besuchen. Als Grund würden wir nennen, dass wir noch einmal die Kalaschnikow sehen wollen. "Auf fünf von uns kann er gar nicht gleichzeitig aufpassen", sage ich. "Einer von uns schnappt sich dann den Schlüssel, geht runter in die Kammer und holt die Pistole. Ein Magazin brauchen wir auch, die liegen daneben."
***
Leider weiß ich nicht mehr, warum wir es letztendlich nicht versucht haben. Schon viele Erklärungen habe ich mir dafür überlegt - die einfachste wäre, dass ich Angst bekam, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Die Angst davor, dass alles um mich herum zusammenbrach, war sehr viel größer. Meine nächste Erinnerung aus dieser Zeit ist, dass ich in einem Kaufhaus im Berliner Bezirk Spandau stehe. Dort starre ich wie gebannt auf ein kleines blaues Telespiel. Zwei schwarze Männchen lassen sich per Knopfdruck über ein Eishockeyfeld jagen. Ich will es unbedingt haben und dränge meine Mutter, dass sie es kauft. "Hundert West-Mark von dem Begrüßungsgeld sind meine", quengle ich, "und das Spiel kostet doch nur zehn." Wir streiten und letztendlich kauft sie mir das Ding.
Die DDR ist da längst nicht mehr zu retten.
* Name geändert. Der Autor ist heute 28 Jahre alt, taz-Redakteur und hat mit der Geschichte seinen Frieden gemacht.
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