Meine Straße: Eine Wohnung, zwei Adressen
■ In Kreuzberg gibt es viele Dörfer, Szenen und unterschiedliche Vorstellungen davon, wie es in einer Wohngegend zugehen sollte: Die einen wollen viel Ruhe, die anderen Lebendigkeit
Einerseits ist es absurd, in großstädtischen Zusammenhängen von „meiner“ Straße zu sprechen, denn die Großstadt lebt bekanntlich von einer gewissen Anonymität, die das anheimelnd vereinnahmende Possessivpronomen eigentlich ausschließt. Andererseits ist Berlin eine Ansammlung kleinerer Städte und Gemeinden; Szenen und Gemeinden verdörflichen die Großstadt.
Viele Dörfer existieren nebeneinander gerade in Kreuzberg und überschneiden sich nur zuweilen: türkische Dörfer, deren Bewohner zumeist aus ländlichen Gebieten stammen, die Dörfer der ehemaligen Hausbesetzer, die Herrschaftsgebiete der unterschiedlichen Jugendbanden, die Restbevölkerung der aussterbenden Eckkneipen, in denen Bier und Korn zwischen 10 und 12 Uhr vormittags nur die Hälfte kosten, und die Heerschar der an keine der unterschiedlichen Szenen angeschlossenen Bewohner.
Doch nicht nur deshalb fällt es mir schwer, von „meiner“ Straße zu sprechen. Ich wohne nämlich zu zweit in einem Eckhaus in einer Eckwohnung mit zwei Ausgängen. Das heißt: Die Wohnung, in der ich lebe, hat zwei Adressen. Die Fenster meiner Mitbewohnerin blicken zwar auf die Fürbringerstraße, sie ist jedoch in der Mittenwalder Straße gemeldet; meine Fenster blicken zwar auf die Mittenwalder Straße, ich bin jedoch in der Fürbringerstraße gemeldet. Während „mein“ Hausflur, mein Briefkasten und die Klingel mit meinem Namen sich in der Fürbringerstraße befinden, liegen die Angelegenheiten meiner Freundin in der Mittenwalder Straße. In der hausinternen Hierarchie gilt der Mittenwalder-Straße-Hausflur als der bessere; dem Hausflur, der zur Fürbringerstraße führt, haftet dagegen etwas leicht Asoziales an.
In der Mikrostruktur des Hauses macht das Sinn, denn die Fenster in der Fürbringerstraße blicken Richtung Norden, die Wohnungen sind also dunkler als die in der Mittenwalder Straße. Auf der anderen Seite ist jedoch die kopfsteinbepflasterte Mittenwalder Straße schmaler und lauter als die plan asphaltierte Fürbringerstraße. Das macht durchaus einen Unterschied, wenn man seinen Schreibtisch am Fenster stehen hat. Wenn man zum Beispiel aus einem Fürbringerstraßen-Fenster in die Wohnungen auf der anderen Straßenseite schaut, erscheinen die Menschen dort eher als entindividualisierte Schemen, deren Geschlecht man grad noch ausmachen kann.
Wenn man dagegen aus dem Mittenwalder-Fenster blickt, sieht man die Menschen ganz genau, was arbeitstechnisch manchmal unglaublich anstrengend ist, wenn sich, wie im letzten Sommer beispielsweise, im Dachgarten gegenüber eine junge Raverin ständig nackt sonnt. Draußen vor der Tür macht die Fürbringerstraße auf Kiez. Es gibt drei Kneipen, die nie jemand besuchen würde, der hier nicht wohnt, ein Restaurant und viele Parkplätze. Doch eigentlich ist die Fürbringerstraße Wohngegend. Wenn im Sommer gegen elf oder zwölf auf der Straße jemand laut redet, stellt sich immer gern einer in weißer Unterwäsche ans Fenster und brüllt: „Ruhe da draußen! Das ist eine Wohngegend!“
Die Vorstellungen, die man in der Fürbringer- und in der Mittenwalder Straße über Wohngegenden hat, gehen weit auseinander.
Während Wohngegend in dem von Deutschen dominierten Teil der Fürbringerstraße, in dem ich wohne, meint, daß hier Ruhe zu herrschen hat – vor allem das hiesige Gesellschaftssegment arbeitsloser Alkoholiker besteht meiner Erfahrung nach auf Stille –, gibt sich die Mittenwalder Straße, in der viele Türken wohnen, doch etwas lebendiger. Vor allem der kleine, von einer sehr netten türkischen Familie betriebene Edeka-Markt vermittelt mir das Gefühl, in meiner Straße zu Haus zu sein. Der Edeka-Markt befindet sich in dem schönsten Haus der Mittenwalder Straße. Sein Eingang befindet sich jedoch in der Gneisenaustraße. Detlef Kuhlbrodt
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