Meine Straße, die sechste: Meine Liebe zu Imki
■ Können sich die Pastellrührer zwar nicht vorstellen, doch graue Häuser sind schön!
Sie ist die Schönste der Stadt. Ihre Züge sind voll Anmut, in ihren Mienen ist Aufrichtigkeit, auch wenn sie an ihrem oberen Ende seit einiger Zeit mit einem Sconti-Drogeriemarkt beginnt (Werbespruch: „Billig wie nie“). Ich bin stolz auf meine Straße und zeige sie gern her, obwohl ich nur zufällig in sie geraten bin. Einmal war ich bei einem netten Radiosender und traf einen freundlichen älteren Kulturredakteur, der wunderbar die Geräusche von DDR-Rasiergeräten beschreiben konnte. Als ich ihm am Ende unseres Gesprächs meine Adresse gab, sah er mich voll Achtung an. „Immanuelkirchstraße“, sagte er, „eine große Straße.“
Adolf Endler habe da gewohnt, Bert Papenfuß-Gorek und andere – teils sogar direkt neben mir, wie ich später erfuhr. Seitdem schreite ich mit erhobenen Kopf die 500 Meter zwischen dem „Sconti“ und dem „Stop7“ (wo angeblich Skinheads verkehren) ab und versuche mir, durchgeknallte Verse auszudenken. Unten in meinem Haus gibt es eine nutzlose Kneipe, wo angeblich in den Wendetagen antisozialistische Kleinkunst aufgeführt wurde. Zu der Zeit, als ich eingezogen bin, haben sie hellblaue Wölkchen an die Wände gemalt und zweifelhafte Bilder ausgestellt. Inzwischen wird in dem Hofzimmer Billard gespielt.
Manchen Häusern meiner Straße haben sie auch versucht, es mächtig in Pastell zu geben – das aber kann meine Straße nicht entstellen. Alle paar Monate muß eins der Häuser eine grünliche Zwangsjacke überziehen. Wenn es wieder herausgeschält wird, ist es hellblau oder -gelb, und Wohnungen stehen leer. Dennoch zeigt meine Straße immer noch vorwiegend grau. Zum Glück! Wer durch meine Straße geht, kann sehen, daß graue Häuser nicht trist sind, sondern eine Kulisse für zahllose Farben, die sich die Pastellrührer gar nicht ausmalen können. Zum Beispiel die Nummer 30, wo knallrot die Geranien in der Sonne stehen.
Sowieso ist meine Straße für die Sonne gebaut: Tags steht sie quer zu meiner Straße, genau auf meinem Hinterhofbalkon. Aber morgens und abends folgt meine Straße der Achse der Sonne und die Stuckwesen auf ihren Fassaden werden lebendig im flachen Licht. Unten im Bötzowviertel geht die Sonne rostrot auf, oben am Wasserturm verpieselt sie sich abends in dekorativen rosa-orangenen Dämmerungsstreifen (was sich trefflich zum Straßengrau fügt).
Die beiden Enden beschreiben auch die Zwischensituation, die meine Straße zu was ganz Besonderem macht und nette, eigensinnige Leute in sie ziehen läßt, die samstags Blumen kaufen, wenn sie Geld übrig haben: Oben das „Szene“- Zentrum des Prenzlauer Bergs, unten das gern verschriene Bötzowviertel. Meine Gegend um die Winsstraße hat gar keinen eigenen Namen, ist aber ein Universum für sich, das man, wenn man will, nie zu verlassen braucht. Das gilt eigentlich schon für meine Straße: Wenn es mal November ist, und man es zwar in der Wohnung nicht mehr aushält, aber den richtig ernsten Gang in die Welt da draußen auch scheut, dann kann man in meiner Straße alles erledigen. Es gibt mehrere Kneipen, zwei vietnamesische Lebensmittelgeschäfte, einen japanischen Spätverkauf, zwei (!) indische Restaurants, eine schöne Blumenhändlerin, ein gutes Kino, einen Bäcker und zwei Backshops, eine Polizeistation, um die Ecke einen russischen Videoverleih sowie ein vortreffliches Weingeschäft mit einer charmanten Weinhändlerin. Zwei Boutiquen gibt es, eine heißt „La bohème“, die andere „Ambiente“. Und was immer geschieht, unten gibt es sogar einen Ofensetzer!
Bei der Post sagen sie zärtlich „Imki“. Bei der Wohnungsverwaltung heißt sie „Immi“. Ich mag keine Verniedlichungen, aber ich liebe sie unbändig, meine Straße. Lutz Meier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen