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Archiv-Artikel

„Meine Füße werden immer länger“

Andrea Landgraf

„Bei jeder Veränderung der Ladenschlusszeiten hat man zuerst gedacht: Das bewältige ich nie. Und jedes Mal wurde es nach kurzer Zeit zur Routine. Wegen meiner Familie hätte ich aber auch gut darauf verzichten können“

Im Weihnachtsgeschäft geraten Verkäuferinnen an ihre Grenzen. Erst recht seit Freigabe des Ladenschlusses Mitte November. Für das Privatleben bleibt kaum noch Zeit. Andrea Landgraf – stellvertretende Abteilungsleiterin für Spielwaren im Kaufhof am Alexanderplatz – liebt ihren Beruf trotzdem. Die 45-Jährige hat schon in dem Kaufhaus gearbeitet, als es noch „Centrum Warenhaus“ hieß. Es war das größte der DDR. Zwei Dinge haben dort den Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft überdauert: der verkaufsoffene Adventssonntag und die Berufsbekleidung für die Verkäuferinnen. Die sah nur ein wenig anders aus als die heute.

Interview Plutonia Plarre

taz: Frau Landgraf, wann fängt für Sie Weihnachten an?

Andrea Landgraf: Anfang November. Da beginnt in der Spielwarenabteilung das Weihnachtsgeschäft. Am 3. Advent tobt hier der Bär. Als Verkäuferin geht man in dieser Zeit bis an seine Grenzen. Für mich und meine Familie bleibt von Weihnachten leider nicht viel übrig.

Das interessiert uns genauer.

Es herrscht ein unvergleichlicher Trubel. Die Kassen sind umlagert. In der Weihnachtszeit machen wir den meisten Umsatz. Die Verkäuferinnen sind von morgens bis abends auf 180. Dauernd ist man am Überlegen, wo man neue Artikel und Dekoration aufbauen kann und was wann nachbestellt werden muss, damit keine Engpässe entstehen. Es ist ein ständiges Ackern und ein ständiger Wandel. Da verzichtet man schon mal auf einen freien Tag. Der geht einem ja nicht verloren.

Der Stress ist Ihnen aber nicht anzumerken.

Mir macht der Trubel ungeheuren Spaß. Natürlich muss man mit Herz und Seele dabei sein. Ich sehe das natürlich mit dem Blick einer stellvertretenden Abteilungsleiterin, die ich bin. Die eine oder andere Mitarbeiterin sagt sich vielleicht: Hoffentlich ist der Rummel bald vorbei.

Schildern Sie uns doch bitte mal Ihre Arbeitszeiten.

Im Dezember arbeiten wir unter der Woche von 9 bis 20 Uhr oder von 11 bis 22 Uhr. Nach vier Arbeitstagen hat man zwei Tage frei. Die verkaufsoffenen Adventssonntage von 13 bis 18 Uhr sind freiwillig. Wer Spätdienst hatte, fängt am nächsten Tag auch erst spät an. Dadurch sind die Zeiten für alle vertretbar.

Auch für Verkäuferinnen mit kleinen Kindern?

Ja. Sie haben es bisher doch auch mit Unterstützung ihrer Männer oder Lebenspartner geschafft. Auf Härtefälle geht der Betrieb natürlich ein. Keine Frau würde deshalb ihren Arbeitsplatz verlieren.

Wenn Sie nach Hause kommen, ist der Tag vorbei. Stört Sie das denn nicht?

Ich denke, man muss sich dem Wettbewerb stellen. Bei jeder Veränderung der Ladenschlusszeiten hat man zuerst gedacht: Das bewältige ich nie. Und jedes Mal wurde es nach kurzer Zeit zur Routine. Wegen meiner Familie hätte ich aber auch gut darauf verzichten können. Meine beiden Kinder sind allerdings schon fast erwachsen.

Elf Stunden am Tag im Kaufhaus, und das seit 28 Jahren – wie halten Sie das aus?

Das ist Gewohnheitssache. Jetzt, wo der Kaufhof so wunderschön umgebaut ist, herrscht hier eine ganz tolle Atmosphäre. Früher hatten wir nicht mal Tageslicht. Dass es draußen regnet, haben wir erst bemerkt, wenn die Kunden mit nassen Jacken reingekommen sind.

Wie geht es Ihren Füßen?

Als ich hier als Lehrling angefangen habe, war es schlimm. Das Kreuz tat weh, die Füße taten weh. Aber der Körper gewöhnt sich dran. Die Füße werden im Laufe der Zeit länger und breiter. Meine sind von Schuhgröße 38 auf 39 gewachsen. Ich bevorzuge flache, bequeme Schuhe – wir sind ja ständig auf Achse. Spaßhaft sagen wir, wir seien den ganzen Tag auf der Flucht.

Sie haben Ihre Lehre im Jahr 1978 – also zu DDR-Zeiten – im Kaufhof begonnen.

Damals hieß der Kaufhof noch Centrum Warenhaus. Ich wusste nicht, was ich werden will. So geht es heute ja auch vielen Jugendlichen. Warum nicht Verkäuferin, habe ich mir gesagt, das ist ein Beruf, der mit Menschen zu tun hat. Man sitzt nicht stupide in der Ecke. Mein Zeugnis, 10. Klasse Polytechnische Oberschule, war in Ordnung. Die Lehrstelle zu bekommen, war sehr einfach. Nachdem ich ausgelernt hatte, bin ich zum Studium gegangen.

Was haben Sie studiert?

Ein- und Verkauf an der Fachschule für Binnenhandel. Danach bin ich wieder hierher zurück und Substitute, stellvertretende Abteilungsleiterin, geworden. Nach der Wende mussten wir allerdings noch eine Ausbildung machen, um die neuen Bedingungen besser verstehen zu können.

Wie muss eine Verkäuferin sein?

Sie muss offen und aufgeschlossen sein, ein freundliches Wesen haben und auf Menschen zugehen können. Sonst ist man völlig falsch in diesem Beruf. Das gilt heute noch mehr als zu DDR-Zeiten.

Freundlichkeit war in der DDR nun wahrlich kein selbstverständliches Attribut für das Dienstleistungsgewerbe.

Der Eindruck hat vielleicht nach außen bestanden. Ich lehne dieses Bild für mich aber ab. Die Situation war damals anders: Der Kunde war eher in der Rolle eines Bittstellers, weil bestimmte Dinge Mangelware waren. Heute gibt es ja alles im Überfluss. Die Kunst des Verkaufs besteht deshalb in besonderen Dienstleistungen und Öffnungszeiten. Das war für uns natürlich ein Lernprozess. Als Verkäuferin ist man gehalten, noch freundlicher zu sein und noch mehr auf den Kunden zuzugehen. Sonst kann man im Wettbewerb nicht bestehen.

In einem Punkt ist der Kaufhof dem Centrum Warenhaus immerhin treu geblieben: Die verkaufsoffenen Adventssonntage gab es schon in der DDR.

Solange ich mich erinnern kann, ist das so. Wir hatten in der DDR nie sonntags auf. Nur im Advent. Diese Sonntage waren das absolute Highlight. Das Haus war immer sehr voll, so wie jetzt auch. Aber es gab viel mehr Personal, weil jeder Kunde individuell bedient wurde. Ich schätze, es gab insgesamt an die 2.000 Verkäuferinnen. Für die Sonntagsdienste wurden wir extra entlohnt.

Was heißt individuelle Bedienung?

Ich war in der Kinderwäscheabteilung. Jeder Kunde bekam einen Korb. Wenn die Körbe ausgegeben waren, kam erst mal keiner mehr in die Abteilung rein.

Mit der Folge, dass sich Schlangen bildeten.

Richtig. Die Verkäuferin stand hinter einem Tresen, wie man sie von früher kennt. Hinter ihr war eine Regalwand, wo zum Bespiel Mädchenunterwäsche lag. Wenn der Kunde gesagt hat: „Guten Tag, ich hätte gern Größe 140“, hat die Verkäuferin sechs, sieben, acht Garnituren in Rosa, Flieder, Weiß, einfach oder geblümt, vor dem Kunden ausgebreitet und ihn beraten. Die längste Schlange an den Sonntagen war immer an der elektrischen Eisenbahn. Das war schon ein anderes Verkaufen. Heute ist alles in Selbstbedienung. Aber wir stehen dem Kunden natürlich jederzeit hilfreich zur Seite.

Gab es bei den Waren oft Engpässe?

Es gab ein paar modische Knaller, die hatten wir nicht immer da. Aber die Grundbedürfnisse konnten befriedigt werden. Kinderbekleidung und Spielwaren waren ja subventioniert. Die Preise waren erschwinglich. Es gab zwar kein Lego, kein Playmobil und keine Zapf-Puppen. Aber deshalb sind die Kinder nicht weniger glücklich aufgewachsen. Es ist schön, dass es heute so eine große Auswahl gibt. Aber manchmal, wenn ich eine Kiste auspacke, frage ich mich: Wozu braucht das die Welt?

Welche Erfahrungen machen Sie sonst noch im Weihnachtsverkauf?

Die Kinder sind stark von der Werbung geprägt. Nur genau diese eine Marke und nichts anderes darf es sein. Man wundert sich schon manchmal, was Eltern und Großeltern so ausgeben. Bei 119 Euro für eine Ritterburg bleibt es doch nicht. Bei kaum einem Kind liegt doch ein Karton allein unter dem Weihnachtsbaum. Dabei sind das allein 240 Mark, wenn man es umrechnet – was ich immer noch tue. Und dann gibt es da noch die Panikkäufer.

Woran erkennt man die?

Die kommen auf den allerletzten Drücker. Mit Vorliebe Heiligabend kurz vor Ladenschluss. Man erkennt sie am hektischen Blick und den Schweißperlen auf der Stirn. Vor allem Herren. Aber das ist eher ein Phänomen in der Parfümerie und Miederwarenabteilung als bei Spielwaren.

Ist der Kaufhof immer noch das Warenhaus für den Ostteil der Stadt?

Wie haben noch ganz viele Stammkunden aus DDR-Zeiten. Seit dem Umbau kommen aber auch immer mehr Kunden aus dem Westen zu uns. Auch Leute, die bis dahin ins KadeWe gegangen sind. Die hätten früher nie den Kaufhof betreten, geschweige denn das Centrum Warenhaus. Und es kommen ganz viele Touristen. Der historische Alexanderplatz übt auf Berlinbesucher eine große Anziehungskraft aus. An den Adventssonntagen zu DDR-Zeiten sind immer viele Amerikaner aus Westberlin zum Einkaufen gekommen. Hochwertige Sachen wie Porzellan und Kristallwaren waren hier wesentlich günstiger.

Registriert man die Kunden in dem Weihnachtstrubel eigentlich noch als Individuen?

Nicht alle. Nicht nach 300 oder 400 Menschen. Das betrifft vor allem die Kollegen an der Kasse. Die haben den meisten Kundenkontakt.

Können Sie sich zwischendrin mal richtig ausruhen und die Kleidung wechseln?

Wir haben ausreichend Pausen und eine Betriebskantine nur für Mitarbeiter. Da kann man abschalten und ein bisschen mit den Kolleginnen quatschen. Ich bin nicht die Einzige, die von den Centrum-Warenhaus-Zeiten übrig geblieben ist. In der vielen Zeit, die man hier verbringt, entstehen natürlich auch Freundschaften. Und wir haben Berufskleidung …

weiße Bluse, graue Hose.

Es gibt auch Blazer und Röcke. Die Kunden sind dafür sehr dankbar, weil wir immer zu erkennen sind. Wir sind auch dankbar, weil einem dadurch die Entscheidung abgenommen wird, was man anziehen soll. Und es schont die Privatkleidung. Berufskleidung hatten wir übrigens auch schon zu DDR-Zeiten.

Was war das für eine?

Kittel. Furchtbar. Eine Zeit lang waren sie hellblau, dann braun. Damals war das eine moderne Farbe und ein moderner Kittel. So was würde heute kein Mensch mehr anziehen.

Was tun Sie, wenn Sie um 22 Uhr Feierabend haben?

Tief an der frischen Luft durchatmen. Dann steige ich in die S-Bahn. Ich wohne in Birkenwerder. Viele von uns haben lange Anfahrtswege. Ich bin über eine Stunde unterwegs. Da kann ich wenigstens meine Bücher lesen. An meinen beiden freien Tagen muss ich mich um den Haushalt kümmern. Mein Mann, ein selbstständiger Raumausstattermeister, arbeitet noch mehr als ich. Seit die Sonntage dazugekommen sind, sehen wir uns selten. Aber der Dezember ist ein besonderer Monat. So sieht unser Leben sonst nicht aus.

Haben Sie schon Weihnachtsgeschenke eingekauft?

Ich tue mich schwer damit. Die Kinder wissen leider nicht, was sie sich wünschen sollen. Das ist das Problem, wenn man schon alles hat. Ich versuche zweckmäßige Geschenke zu machen, und ich kaufe zwischen Tür und Angel ein. Wenn ich freihabe, muss ich nicht auch noch in Geschäfte gehen.