■ Neulich: Mein Weihnachtswunder
Wenn ich nicht bereits ein gläubiger Mensch wäre, hätte mich mein Weihnachtswunder am Dienstag zu einem solchen gemacht. Es geschah, wie es sich gehört, direkt vor der Haustür. Und selbstverständlich spielte auch ein Esel, jedenfalls eine Art Esel, eine Hauptrolle. Doch der Reihe nach.
Das Fahrrad ist ja für einen bremischen Journalisten geradezu ein Produktionsmittel. Als ich aber gestern aus der Tür trat, war mein treuer alter Drahtesel nicht wie gewohnt am Zaun von gegenüber angehobbelt. Er stand auch nicht, wie ich gehofft hatte, im Keller und fraß sein Heu. Mein Mitbewohner beteuerte seine Unschuld. Spurlos verschwunden war mein Rad, das zu allem Überfluß nicht mal mir gehört, sondern eine Dauerleihgabe meines großherzigen Bruders darstellt. Was denkt ein Mensch in einer solchen Notlage? Mein Fahrrad entführt und gestohlen, wie es in der Stadt schon fast zum guten Ton gehört! Groll und Zorn wüteten in meiner Brust, selbst der Ruf nach einer harten Hand gegen das Verbrechen vor der Haustür wurde in mir laut.
Gramgebeugt verrichtete ich mein Tagwerk. Als ich aber dann abends wieder in den Keller hinabstieg, um mein Reserverad fest anzuketten und es vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, traute ich meinen Augen nicht: Da stand mein Eselchen mitsamt seinem roten Korb und grinste, als sei nichts gewesen! Überglücklich schloß ich es in die Arme und wollte nicht fragen, wo es gewesen und wie es durch die verschlossene Kellertür weg- und wieder zurückgekommen war. Auch fragte ich nicht, wo und mit wem es denn diesen kürzesten und dunkelsten Tag des Jahres verbracht hatte. Stumm wie ich war, genoß ich mein Weihnachtswunder.
Bernhard Pötter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen