: Mein Kino kann sprechen
■ Ein liebenswürdiges Relikt aus frühesten Kinotagen: Live-Animation im Kinosaal, jetzt im Vorprogramm der „Schauburg“
In den frühen Zeiten des Kinos gab es neben Musikern, die die Stummfilme begleiteten, auch Kinoerzähler. Sie erklärten dem Publikum alles ganz genau, manchmal vertonten sie die stummen Dialoge auch mit eigenen, halbwegs synchron gesprochenen Texten. Diese Synthese aus Theater und Film schien mit dem Siegeszug des Tonfilms endgültig ausgestorben zu sein. Aber gerade solche Mischformen sind es, die den Hamburger Filmemacher Zoltan Spirandelli interessieren. Sein Kurzfilm „Der Hahn ist tot“ ist so ein Beispiel der verschollenen Kunst der Live-Animation im Kino: Darin bewegte er das Publikum – von der Leinwand aus, aber sehr effektiv – das bekannte Volkslied im Kanon zu singen. Zuletzt sorgte sein erzählter Film „Wie Erwin Stunz den Sexfilm drehte“ für Heiterkeit vorm Hauptprogramm. Inzwischen machen einige Kinos sogar extra Werbung für Spirandellis schöne Vorfilmkunst.
In seinem neuen Film kehrt er stilecht zu der alten Tradition des Kinoerzählers zurück. Seine Adaption von Heinrich von Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“ ist ein auf Breitwand und mit Dolby Digital Ton gedrehter Stummfilm. Auf der Tonspur gibt es nur Soundeffekte und Musik, dazu aber liest ein Erzähler den Originaltext von Kleist live im Kinosaal.
All das hört sich natürlich verdächtig nach einer blutleeren Kopfgeburt an, aber der Film bietet acht Minuten aufregendes Actionkino – Kleists Kurzgeschichte ist eine hochromantische Räuberpistole. Für Spirandelli ist die Geschichte aus dem Jahre 1810 „aufgebaut wie ein klassischer Western-Showdown mit einem urdeutschen Helden.“
Dieser einsame preußische Soldat kommt in eine gottverlassene Schenke, läßt sich dort vom Wirt Schnaps und Feuer für seine Pfeife geben, während rundherum die französischen Soldaten vorrücken. In aller Seelenruhe plaudert er mit dem vor Angst schlottendernden Gastwirt, bis er schließlich drei ins Dorf reitende Franzosen mit einem schnell gezogenen Degen vom Sattel haut.
All das hat Spirandelli sehr aufwendig und authentisch inszeniert. Sein preußischer Krieg wurde in einem historischen Museumsdorf in Hessen gedreht. Bei der Aufführung steht nun ein Schauspieler direkt vor der Leinwand, um synchron zu den Bildern Kleists Originalltext vorzutragen. Bei den ersten Aufführungen besorgte dies Spirandelli selbst, in Bremen übernimmt Lutz Gajewski vom Jungen Theater die Rolle. Wenn sich die Lippen des Preußen auf der Leinwand bewegen, hören wir die Worte aus dem Munde des Erzählers – ein Schnitt auf der Leinwand entspricht einem Komma im Text.
Durch diese Verfremdung achtet man seltsamerweise um so genauer auf Text und Bild. Natürlich lauert man auch auf kleine Schnitzer des Vortragenden. Spirandelli erzählt, daß er je nach Tagesform und Stimmung den Text in jeder Vorstellung ein wenig anders vorträgt.
Die Adaption des Textes ist voller kleiner Finessen, die man beim ersten Sehen unmöglich alle erkennen kann: Nebensätze, die als sekundenlange Rückblenden inszeniert werden; Beschreibungen, die in Zooms übersetzt werden, und eine präzise filmische Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Rede.
Aber am meisten Spaß macht doch der scheinbar widersinnige Anachronismus: Warum müht sich da einer jeden Abend wieder mit dem Vortrag des Textes ab, wo der Filmemacher es sich doch viel bequemer hätte machen können? Vielleicht, damit die Zuschauerinnen und Zuschauer sagen können: „So wie an diesem Abend wird der Film nie wieder aufgeführt werden.“ Wilfried Hippen
Schauburg, täglich um 21 Uhr, als Vorfilm zu „Bullets over Broadway“
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