Mehrheitsanteile für Autogewerkschaft: Chrysler in Arbeiterhand
Die Autogewerkschaft UAW soll 55 Prozent an dem Autokonzern übernehmen. Auch Fiat und die US-Regierung steigen ein. Doch Freude kommt darüber nicht auf.
WASHINGTON taz | Es ist ein historischer Schritt, den der Autokonzern Chrysler gehen muss. Die letzte Ikone der US-Autoindustrie, die einen Insolvenzantrag stellen musste, war die Firma Studebaker. 1933 war das, in Folge der großen Depression. 76 Jahre später beantragt mit Chrysler nun der erste der drei großen US-Autokonzerne Gläubigerschutz.
In den USA gibt es zwei Hauptformen der Insolvenz:
Chapter 11: Angeschlagene Unternehmen wie Chrysler, denen aber eine Überlebenschance eingeräumt wird, beantragen die Insolvenz nach Kapitel 11 des US-Insolvenzrechts. Unter strikter Aufsicht des Insolvenzrichters können Unternehmen weiterarbeiten, sich frisches Kapital besorgen und sich so sanieren. Sie werden unter Gläubigerschutz gestellt. Gläubiger dürfen während der Sanierungszeit nicht versuchen, ihre Forderungen geltend zu machen. Das Insolvenzrecht in Deutschland dagegen orientiert sich stärker an den Interessen der Gläubiger eines angeschlagenen Unternehmens. Gleichwohl wird auch in den USA der Schuldenabbau mit Kreditgebern ausgehandelt. Insolvenzverfahren nach Chapter 11 und die Reorganisation von Unternehmen dauern in der Regel einige Monate. Die Fluggesellschaft United Airlines aber verbrachte drei Jahre in diesem Insolvenz-Vakuum. Im Fall von Chrysler versucht der Konzern, mit Gewerkschaften, Gläubigern, Händlern und Zulieferern schon vorweg Vereinbarungen zu treffen und diese dem Konkursgericht als Paket vorzulegen. Notwendig für solch einen "prepackaged Deal" ist die Zustimmung von mindestens 66,6 Prozent der Gläubiger. So verkürzt sich die Dauer der Insolvenz. Die größte Insolvenz in den USA nach Chapter 11 reichte die Bank Lehman Brothers 2008 ein. Auf über 600 Milliarden Dollar belief sich das Volumen der Vermögenswerte und der Schulden im Konzern.
Chapter 7: Ist ein Unternehmen so überschuldet, dass es keine Sanierungschance gibt, wird es nach Chapter 7 des US-Insolvenzrechts liquidiert. Ein vom Insolvenzgericht ernannter Treuhänder löst das Unternehmen auf. Noch vorhandene Vermögenswerte werden verkauft. Den Erlös bekommen die Gläubiger. TOK
Die Chrysler-Entscheidung fiel nach einer langen Nacht der Verhandlungen, in der sich die Auto-Beauftragen des US-Präsidenten Barack Obama mit Gläubigern nicht über eine Sanierung außerhalb des Insolvenzrechts hatten einigen können. Die rund 20 Gläubiger, insbesondere Hedgefonds und Finanzinvestoren, bestanden auf ihrer Schuldenrückzahlung. Deshalb entschied Obama schließlich, dass ein Insolvenzverfahren unter Gläubigerschutz der einzig gangbare Weg sei.
Im Garten des Weißen Hauses stehend, flankiert von den Männern seiner Auto-Taskforce, kündigte der US-Präsident dann die Lösung an: Eine Allianz mit dem italienischen Autokonzern Fiat, ein Insolvenzverfahren und neue staatliche Milliardenhilfen für den Konzern, der seit Monaten als der schwächste der großen drei (Chrysler, Ford und General) gegolten hatte. Dass dieser Schritt eine weitere außergewöhnliche Intervention Washingtons in die Geschicke der Privatwirtschaft sei, darauf hinzuweisen verloren die oppositionellen Republikaner keine Zeit.
Aber Obama bot noch weitere Überraschungen. So soll die einst mächtige Autogewerkschaft United Automobile Workers (UAW) durch ihren Rentenfonds die Kontrolle bei Chrysler übernehmen. Das Eignermodel nach Abschluss des Insolvenzverfahrens soll dann so aussehen: 55 Prozent des Konzerns gehören der UAW, Fiat übernimmt anfänglich 20 Prozent, später bis zu 35 Prozent. Zudem hält die US-Regierung acht und die kanadische Regierung zwei Prozent.
In nur 60 Tagen soll die staatlich betreute Umstrukturierung abgeschlossen sein. Das US-Finanzministerium will den Prozess mit insgesamt 8 Milliarden Dollar, rund 6 Milliarden Euro, finanzieren. Kanada, wo Chrysler ebenfalls Produktionsstandorte hat, gibt weitere 2,4 Milliarden Dollar Nothilfe dazu.
Durch die Partnerschaft mit Fiat, vor allem mit dessen technischem Know-how, würden mehr als 30.000 Arbeitsplätze bei Chrysler und zehntausende weitere bei Zulieferern und Händlern gesichert, sagte Obama. Chrysler, 1919 gegründet, hatte bereits seit Monaten mit dem Fiat-Konzern verhandelt, der unter anderem auch eine Übernahme der deutschen GM-Tochter Opel anstrebt. Chrysler mit seinen 54.000 Angestellten ist derzeit noch im Besitz der US-Beteiligungsgesellschaft Cerberus.
Experten äußerten Zweifel, ob das ungewöhnliche Trio aus Gewerkschaft, Fiat und der US-Regierung nun den Autobauer dahin bugsieren kann, wohin Chrysler es in drei Jahrzehnten selbst nicht schaffte - nämlich in die Zukunft. Ausgerechnet die Gewerkschaften und ihren betrieblicher Altersfonds hatte Obama - und mit ihm radikale Marktbefürworter - zuvor selbst zum Teil des Problems der US-Autoindustrie erklärt.
Unglücklich sind auch progressive UAW-Gewerkschafter wie Wendy Thompson, eine ehemalige Arbeiterin aus Detroit. Sie ist überzeugt davon, dass sich die längst zahnlose UAW ein weiteres Mal hat über den Tisch ziehen lassen. "Anstatt des Insolvenzverfahrens hätte Washington einen öffentlichen Trust unter Beratung und Verwaltung von Ingenieuren, Arbeitern und Umweltfachleuten gründen sollen, die Chrysler zu einem Konzern des 21. Jahrhunderts machen könnten, der weit über reine Benzineffizienz hinausdenkt", sagte Thompson der taz. Sie und ihre UAW-kritischen Mitstreiter in Detroit sind der Ansicht, dass sich im angekündigten Chapter-11-Verfahren "viel zu viele irrationale Momente verbergen". Obamas Coup, den Pensionsfonds der UAW zum Haupteigner zu machen, sei der "Anfang vom Ende des betrieblichen Rentenmodells". Denn nun seien Altersabsicherung und Krankenversicherungen für die Arbeiter unsicherer als je zuvor. Der Chef der Gewerkschaft UAW, Ron Gettelfinger, gestand ein, dass die Übereinkunft für die aktive Belegschaft und die Ruheständler "schmerzhaft" sei, aber Chrysler immerhin eine Überlebenschance gebe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels